Interview zu sexualisierter Gewalt : Es geht darum, die Kontrolle zurückzugewinnen …

Betroffenen-Interview zu sexualisierter Gewalt : Es geht darum, die Kontrolle zurückzugewinnen

Als Kind und Jugend­li­che hat Eva Nit­sch (45) inner­halb der Evan­ge­li­schen Kir­che im Rhein­land mehr­fach sexua­li­sier­te Gewalt erfah­ren. Im Inter­view spricht die aus­ge­bil­de­te Musik­the­ra­peu­tin über den Umgang mit Betrof­fe­nen, Stol­per­fal­len beim Auf­ar­bei­tungs­pro­zess und ihre Hoff­nung, wie­der Teil einer Glau­bens­ge­mein­schaft zu werden.

Frau Nit­sch, Ende Janu­ar ist die ForuM-Stu­die ver­öf­fent­licht wor­den. Was ver­bin­den Sie damit ?

Eva Nit­sch : Ich habe selbst an der Stu­die teil­ge­nom­men, fin­de mich also in den Betrof­fe­nen­zah­len wie­der. Die Ver­öf­fent­li­chung hat bei mir für tie­fe Trau­er gesorgt, weil ich die stil­le Hoff­nung hat­te, dass nicht so vie­le so schwer betrof­fen sind. Zumal ich mir ziem­lich sicher bin, dass die­se Zah­len, wie es ja auch gesagt wur­de, nur einen klei­nen Teil der­je­ni­gen wider­spie­geln, die sexua­li­sier­te Gewalt in der evan­ge­li­schen Kir­che erfah­ren haben.

Die Stu­die kri­ti­siert den Umgang mit den Betrof­fe­nen : Sie wur­den nicht ernst genom­men, ihnen wur­de nicht geglaubt, sie erhiel­ten kaum Unter­stüt­zung. Kön­nen Sie die­se Erfah­run­gen bestätigen ?

Nit­sch : Ja, das kann ich. Ich habe mich zwei­mal an kirch­li­che Stel­len gewen­det, um mei­nen Fall auf­zu­de­cken, und bin aus die­sen Gesprä­chen bei­de Male als stig­ma­ti­sier­te Lüg­ne­rin hervorgegangen.

Was kön­nen und mögen Sie von Ihrem eige­nen Fall erzählen ?

Nit­sch : Es sind noch Ver­fah­ren anhän­gig, daher kann ich mich nicht detail­liert dazu äußern. Aber ich war in mei­ner Kind­heit und Jugend schwers­ter sexua­li­sier­ter Gewalt aus­ge­setzt. Es gibt ver­schie­de­ne Täter, zwei davon aus der evan­ge­li­schen Kir­che. Mit mei­ner per­sön­li­chen Auf­ar­bei­tung bin ich erst seit dem Früh­jahr 2022 beschäf­tigt, weil das, was mir pas­siert ist, so unvor­stell­bar erschre­ckend und qual­voll war, dass ich vie­le Gescheh­nis­se 30 Jah­re lang kom­plett abge­spal­ten habe. Ich wuss­te zwar von sexu­el­lem Miss­brauch, aber nicht von dem Aus­maß der Gewalt.

Wann haben Sie das ers­te Mal gewagt, Hil­fe zu suchen und jeman­den anzusprechen ?

Nit­sch : Im Jahr 2001 habe ich zum ers­ten Mal ver­sucht zu erzäh­len, was mir pas­siert ist. Ich bin damals zu dem Pfar­rer gegan­gen, der mich kon­fir­miert hat­te, aber er hat mir nicht geglaubt. Der zwei­te Ver­such war dann ein Jahr spä­ter, als sich mei­ne Eltern an den dama­li­gen Super­in­ten­den­ten gewen­det haben. Aber weder ich noch der Täter wur­den im Anschluss befragt. Es gibt auch kei­ne Akten­no­tiz dazu. Ich stand am Ende wie­der als ver­meint­lich ver­lieb­te Lüg­ne­rin da.

Was haben die­se bei­den Erleb­nis­se mit Ihnen gemacht ?

Nit­sch : Sie haben mich in tie­fe Ver­zweif­lung und ein see­li­sches Cha­os gestürzt. Das galt damals wie auch heu­te, nach­dem ich begon­nen habe, mich wie­der zu erin­nern. Es wird auch nie wie­der gut wer­den. Das eine ist ja das, was einem pas­siert ist. Aber wenn man dann Hil­fe sucht und wahr­ge­nom­men wer­den möch­te und das pas­siert nicht, ist das wie ein zwei­ter Ver­rat. Der Pfar­rer, der mich kon­fir­miert hat, war für mich auch eine Ver­bin­dung zu Gott. Umso schwie­ri­ger war es, danach noch an irgend­et­was zu glauben.

Und um Hil­fe muss­ten Sie sich dann selbst kümmern ?

Nit­sch : Ja, aber weil ich nicht wuss­te, was genau mir pas­siert ist, konn­te ich auch nicht wirk­lich dar­über spre­chen. Das Ver­ges­sen war not­wen­dig, um über­le­ben zu können.

Haben Sie den Ein­druck, dass sich seit die­sen ers­ten Erfah­run­gen im Umgang mit Ihnen etwas ver­än­dert hat ?

Nit­sch : Im Zuge der Auf­ar­bei­tung habe ich vie­le gute Gesprä­che geführt und viel Betrof­fen­heit wahr­ge­nom­men. Der Umgang ist heu­te voll­kom­men anders. Das gilt sowohl für den Nach­fol­ger des dama­li­gen Super­in­ten­den­ten als auch für den Vize­prä­ses der rhei­ni­schen Kir­che. Unab­hän­gig von dem, was mir an der Auf­ar­bei­tung noch nicht passt, bin ich dort auf wirk­li­ches Zuhö­ren gesto­ßen und hat­te das Gefühl, ernst genom­men zu wer­den und eine gleich­wer­ti­ge Gesprächs­part­ne­rin zu sein.

Was kri­ti­sie­ren Sie an der Aufarbeitung ?

Nit­sch : Es gibt aus mei­ner Sicht vie­le Stol­per­fal­len. Mein Haupt­an­lie­gen ist ein sen­si­ble­rer Umgang mit den Betrof­fe­nen. Trau­ma­ti­sche Erleb­nis­se sind mit dem Gefühl des Kon­troll­ver­lusts und der Hilf­lo­sig­keit ver­bun­den und jetzt geht es dar­um, die Kon­trol­le zurück­zu­ge­win­nen. Daher wäre mein Wunsch, dass die Per­so­nen, die mit der Auf­ar­bei­tung beschäf­tigt sind, bes­ser geschult wer­den, um Retrau­ma­ti­sie­run­gen zu ver­mei­den. Zum Bei­spiel schlie­ßen sich die Begrif­fe Macht­miss­brauch und Bezie­hung gegen­sei­tig aus. Man kann also nicht sagen : Sie haben eine Bezie­hung zu dem Täter gehabt. Auch die Nen­nung der Täter­na­men soll­te ver­mie­den wer­den. Und der Satz “Sie sind ein schwie­ri­ger Fall” hilft über­haupt nicht wei­ter. Anru­fe soll­ten schrift­lich abge­spro­chen wer­den, damit die Betrof­fe­nen die Kon­trol­le über die wei­te­re Form der Kon­takt­auf­nah­me behal­ten. Und wenn sie voll­jäh­rig sind, darf nicht ohne Abspra­che mit ihrer Fami­lie gespro­chen werden.

Die Ein­be­zie­hung Betrof­fe­ner ist nicht rei­bungs­los erfolgt. Ist die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land (EKD) mit dem Betei­li­gungs­fo­rum jetzt auf einem guten Weg ?

Nit­sch : Ich neh­me unter den Betrof­fe­nen zwei Strö­mun­gen wahr. Die einen sagen, sie wol­len mit der Kir­che gar nichts mehr zu tun haben. Die ande­ren, zu denen auch ich zäh­le, sagen : Es geht nur mit der Kir­che zusam­men. Was pas­siert, wenn die regio­na­len Auf­ar­bei­tungs­kom­mis­sio­nen gebil­det wer­den, hängt auch von dem Zulauf ab. Aber ich habe den Ein­druck, dass die Sicht der Betrof­fe­nen wirk­lich gefragt ist.

War­um ist es aus Ihrer Sicht sinn­voll, sich in einer der neun geplan­ten regio­na­len Auf­ar­bei­tungs­kom­mis­sio­nen zu engagieren ?

Nit­sch : Zum einen, um für mehr Nähe und Trans­pa­renz zwi­schen Betrof­fe­nen und Ent­schei­dungs­trä­gern zu sor­gen. Und zum ande­ren kom­me ich wie­der auf das The­ma der Kon­trol­le zurück : Durch die akti­ve Mit­ge­stal­tung kann das Gefühl des Aus­ge­lie­fert­seins abge­legt wer­den und man erhält die Kon­trol­le zurück. Für mich ist wich­tig, in die­sem Pro­zess wahr­ge­nom­men und gleich­be­rech­tigt gehört zu wer­den. Ich glau­be, wenn man Din­ge mit einer gewis­sen Klar­heit benennt, gibt das auch Kraft für das wei­te­re Leben. Es darf natür­lich kein Macht­ge­fäl­le mehr geben nach dem Mot­to, die Kir­che gibt vor und die Betrof­fe­nen lau­fen hin­ter­her. Und es braucht eine außen­ste­hen­de Per­son ohne Kir­chen­bin­dung, die inter­ve­niert, falls sich die Betrof­fe­nen mit ihren Geschich­ten gegen­sei­tig retrau­ma­ti­sie­ren und dadurch erneut belasten.

In den Gemein­den vor Ort steht die Auf­ar­bei­tung oft noch ganz am Anfang. War­um soll­ten sie sich die­sem Pro­zess stellen ?

Nit­sch : Es bringt schon viel, wenn die Lan­des­kir­che Far­be bekennt, aber natür­lich sind die Taten in den Gemein­den gesche­hen. Und sie müs­sen jetzt klä­ren, wie es dazu kom­men konn­te. Das ist eine sehr unan­ge­neh­me Auf­ga­be und man braucht eine gewis­se Kon­flikt­fä­hig­keit, um tie­fer ein­zu­tau­chen und zu sehen, wo man selbst damals gestan­den und was man viel­leicht auch über­se­hen hat. Zumin­dest in mei­nem Fall gehe ich davon aus, dass sich Täter gegen­sei­tig gedeckt haben. Es ist ja nie so, dass alles im Ver­bor­ge­nen abläuft, son­dern es gibt immer irgend­wel­che Anzei­chen. Aber das gro­ße Pro­blem der Gemein­den ist ihre Kon­flikt­un­fä­hig­keit. Wir wol­len immer, dass alles gut ist.

Sie haben von einer tie­fen Glau­bens­kri­se gespro­chen. Wie hat die Erfah­rung sexua­li­sier­ter Gewalt Ihren Glau­ben verändert ?

Nit­sch : Ich habe mei­nen Glau­ben durch die Musik wie­der­ge­fun­den. Ich spie­le seit eini­gen Jah­ren Orgel und mache gera­de mei­nen C‑Kurs. Außer­dem sin­ge ich in der Kan­to­rei und kann so wie­der den Raum Kir­che betre­ten. Ich bin aber noch lan­ge nicht so weit, einen Got­tes­dienst auch zu besu­chen, ohne dort tätig zu sein. Als ich begon­nen habe, mich zu erin­nern, woll­te ich mich an etwas Gutem fest­hal­ten, aber mir ist zunächst nichts ein­ge­fal­len. Das liegt dar­an, dass sich Miss­brauchs­er­fah­run­gen und Glau­be meist auf sehr unge­sun­de Wei­se ver­mi­schen. Das gilt es wie­der von­ein­an­der zu tren­nen. Ich den­ke, dass bei den meis­ten Betrof­fe­nen vor dem Erle­ben sexua­li­sier­ter Gewalt ein ver­trau­ens­vol­ler Glau­be vor­han­den war, sonst hät­ten die Täter auch nicht so leich­tes Spiel gehabt. Es braucht natür­lich den per­sön­li­chen Wil­len, auch danach wie­der die Nähe Got­tes zu suchen, aber es braucht auch Men­schen in der Gemein­de, die bereit sind, die­sen schwie­ri­gen Weg mit­zu­ge­hen. Denn es gibt vie­le Betrof­fe­ne, die auch nach einer Aner­ken­nungs­leis­tung nicht sagen, okay, jetzt bin ich fer­tig und habe mit allem abge­schlos­sen. Und um die­se Men­schen küm­mert sich die Kir­che bis­her zu wenig.

Haben Sie heu­te ein ande­res Gottesbild ?

Nit­sch : Ich habe noch ein ganz kind­li­ches Glau­bens­ver­ständ­nis. Mein Glau­be ist sozu­sa­gen hän­gen­ge­blie­ben in der Zeit, als mir all das Schreck­li­che noch nicht pas­siert ist. Wie in dem Lied “Mei­nem Gott gehört die Welt, mei­nem Gott das Him­mels­zelt”. Vol­ler Ver­trau­en, in gewis­ser Wei­se unbe­darft und ganz rein. Einen Erwach­se­nen­glau­ben konn­te ich noch nicht entwickeln.

Sind Sie dazu mit ande­ren Betrof­fe­nen im Aus­tausch, denen es ähn­lich geht ?

Nit­sch : Noch nicht. Ich wer­de ver­su­chen, bei dem geplan­ten ers­ten regio­na­len Forum für Betrof­fe­ne am 21. Juni im Fuß­ball­mu­se­um in Dort­mund Men­schen zu fin­den, die sich auch für die­se Fra­ge inter­es­sie­ren. Ich gehe davon aus, dass die­je­ni­gen, die dort­hin kom­men, nicht zu denen gehö­ren, die nichts mehr mit der Kir­che zu tun haben wollen.

Was ist Ihre Hoff­nung für die Zukunft mit Blick auf den Umgang der evan­ge­li­schen Kir­che mit sexua­li­sier­ter Gewalt ?

Nit­sch : Neben der gro­ßen Hoff­nung, dass die Men­schen auf die Begeg­nung mit Betrof­fe­nen bes­ser vor­be­rei­tet sind, hof­fe ich beson­ders auf eine bes­se­re Ver­net­zung der Lan­des­kir­chen unter­ein­an­der. Schwer­wie­gen­de Vor­wür­fe müs­sen unbe­dingt lan­des­kir­chen­über­grei­fend wei­ter­ge­ge­ben wer­den. Und ich wün­sche mir Ange­bo­te für Betrof­fe­ne, die sich auf der Suche befin­den und wie­der Teil einer Glau­bens­ge­mein­schaft wer­den wollen.

Inter­view : Ekke­hard Rüger

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Quel­le : Cor­ne­lia Breu­er-Iff,  stv. Pressesprecherin
Ori­gi­nal-Con­tent von : Evan­ge­li­sche Kir­che im Rhein­land (EKiR), über­mit­telt durch news aktuell

Foto­credit : AdobeStock_​361336402 / Brisystem

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