Eine Doppelmoral – Diskussion um Paragraph 218 – Ergebnis eines unwürdigen Kompromisses

Berliner Morgenpost : Eine Doppelmoral, ein Kommentar von Birgitta Stauber zur Diskussion um Paragraph 218

Sie liegt vor der Tür, nahe­zu ohn­mäch­tig und blu­tend zwi­schen den Bei­nen. So fin­det die jun­ge Ali­ce Schwar­zer, Au-pair-Mäd­chen in den 1960er-Jah­ren in Paris, ihre Freun­din vor – nach einer lebens­ge­fähr­li­chen wie ent­wür­di­gen­den ille­ga­len Abtrei­bung. Die Sze­ne aus dem Film „Ali­ce“ über Deutsch­lands bekann­tes­te Frau­en­recht­le­rin zeigt einen Schlüs­sel­mo­ment ihres Lebens. Der Kampf gegen das Abtrei­bungs­ver­bot wird zum zen­tra­len Anlie­gen und macht sie zur Iko­ne der Frauenbewegung.

Und heu­te, mehr als 60 Jah­re spä­ter ? Zwar kön­nen Frau­en in Deutsch­land längst für eine Abtrei­bung in eine Kli­nik gehen. Sie kön­nen in der frü­hen Schwan­ger­schafts­pha­se ein Medi­ka­ment schlu­cken, das die Wir­kung des Gelb­kör­per­hor­mons blo­ckiert – mit der Fol­ge, dass sich der Embryo aus der Gebär­mut­ter her­aus­löst und schließ­lich abgeht. Rechts­wid­rig ist die­se mehr oder weni­ger sanf­te frü­he Abtrei­bung den­noch – auch wenn sie nach einer Bera­tung straf­frei bleibt.

Natür­lich ist die Dop­pel­mo­ral, die hin­ter die­ser Rege­lung aus dem Jahr 1993 steckt, das Ergeb­nis eines unwür­di­gen Kom­pro­mis­ses. Schließ­lich muss­te die libe­ra­le Fris­ten­lö­sung der DDR mit der stren­gen Indi­ka­ti­ons­re­ge­lung der Bun­des­re­pu­blik zusam­men­ge­führt wer­den. Und so blieb zwar die Fris­ten­lö­sung erhal­ten, wur­de aber mit dem Straf­ge­setz­buch ver­bun­den nach dem Mot­to : Du kannst abtrei­ben, wenn du unbe­dingt willst. Aller­dings bleibt es eine Straf­tat. Sei froh, dass du dafür nicht in den Knast kommst.

Und genau in die­ser Denk­wei­se zei­gen sich das patri­ar­cha­le Mus­ter und die Bevor­mun­dung, die hin­ter dem Para­gra­fen 218 ste­cken. Statt jun­ge Men­schen auf­zu­klä­ren über Lie­be und Part­ner­schaft, über eine gleich­be­rech­tig­te Sexua­li­tät und Ver­hü­tung, wird Frau­en mit der Moral­keu­le gedroht, wäh­rend Män­ner – zum Kin­der­krie­gen gehö­ren ja bekannt­lich zwei – damit gar nichts zu tun haben. Inso­fern ist es ein über­fäl­li­ger Schritt, wenn die Ampel der Emp­feh­lung der von ihr ein­ge­setz­ten Kom­mis­si­on folgt und end­lich die Abtrei­bung in der Früh­pha­se der Schwan­ger­schaft aus dem Straf­ge­setz­buch holt.

Es kann sein, dass jetzt wie­der die soge­nann­ten Lebens­schüt­zer aktiv wer­den. Dass radi­ka­le Akti­vis­ten den Ärz­tin­nen und Ärz­ten auf­lau­ern, die Abrei­bun­gen vor­neh­men. Dass Rufe laut wer­den, Frau­en die Selbst­be­stim­mung über ihren Kör­per abzu­spre­chen. All die­sen „Lebens­schüt­zern“ sei gesagt : Der bes­te Schutz vor Abtrei­bung ist die Prä­ven­ti­on.Wer zu jung ist, zu allein, wer Gewalt in der Part­ner­schaft erlebt und finan­zi­ell kaum über die Run­den kommt, wer gera­de erst im Job Fuß fasst, hat schnell das Gefühl : (Noch) ein Kind ? Das schaf­fe ich nicht.

Dann sol­len sie halt ver­hü­ten, heißt es schnell. Doch das ist mit­un­ter leich­ter gesagt als getan, wenn die letz­ten 50 Euro des Monats für den Wochen­end­ein­kauf ein­ge­setzt wer­den – nicht für die Drei-Monats-Packung der Anti-Baby-Pil­le. Von den Kos­ten für eine Spi­ra­le, die schnell bei 300 Euro lie­gen, ganz zu schwei­gen. Hin­zu kommt, dass nach wie vor in vie­len Bezie­hun­gen die Kos­ten für Ver­hü­tungs­mit­tel ein regel­rech­tes Tabu­the­ma sind.

Eine frü­he Sexu­al­erzie­hung mit dem Ziel, Män­ner in die Pflicht zu neh­men, dazu ein unkom­pli­zier­ter und kos­ten­güns­ti­ger Zugang zu Ver­hü­tungs­mit­teln über das 22. Lebens­jahr hin­aus kann bes­ser unge­bo­re­nes Leben schüt­zen als ein ana­chro­nis­ti­scher Para­graf 218, der Frau­en in Extrem­si­tua­tio­nen mit dem Straf­recht droht. Der Koali­ti­on ist hof­fent­lich klar, dass ein der­ar­ti­ges Pro­gramm zur Libe­ra­li­sie­rung der Abtrei­bung dazugehört.

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