Israel in einem tiefen Dilemma – Recht auf Selbstverteidigung unbestritten – Aber wie viele tote rechtfertigt das Ziel, die Hamas zu vernichten?

Berliner Morgenpost: Israels Dilemma – Kommentar von Michael Backfisch zum Nahost-Konflikt

Zu Beginn jeder Debat­te über den Gaza-Krieg gilt fest­zu­hal­ten: Aus­lö­ser waren die bes­tia­li­schen Angrif­fe der Hamas-Ter­ro­ris­ten auf unschul­di­ge Zivi­lis­ten. Kein poli­ti­sches Ziel – auch nicht die Schaf­fung eines unab­hän­gi­gen Paläs­ti­nen­ser­staats – recht­fer­tigt die­se Gräu­el­ta­ten. Die Hamas ver­sucht der­zeit, sich mit­tels Image-Akro­ba­tik ein pseu­doh­u­ma­nes Gesicht zuzu­le­gen. Durch die suk­zes­si­ve Frei­las­sung von ein paar Gei­seln soll der inter­na­tio­na­le Druck auf Isra­el erhöht wer­den, mit der ange­kün­dig­ten Boden­of­fen­si­ve zu war­ten. Es ist ein abgrund­tief zyni­sches Spiel, denn die Hamas gibt kei­nen Pfif­fer­ling auf mensch­li­ches Leben. Den Ter­ro­ris­ten geht es viel­mehr um eine Täter-Opfer-Umkehr: Nach die­ser per­fi­den Les­art ent­schei­det Isra­el über Leben und Tod der Gei­seln und nicht die Hamas.

Den­noch befin­det sich Isra­el in einem tie­fen Dilem­ma. Das Recht des Lan­des auf Selbst­ver­tei­di­gung ist unbe­strit­ten. Eben­so das Ziel, die Urhe­ber der Ter­ror­at­ta­cken und das dahin­ter­ste­hen­de Netz­werk aus­zu­schal­ten. Aber wie vie­le tote und ver­letz­te paläs­ti­nen­si­sche Zivi­lis­ten recht­fer­tigt das Ziel, die Hamas zu vernichten?

Dass Isra­el bei der Boden­of­fen­si­ve im Gaza­strei­fen so lan­ge zögert, hat nicht nur mit dem Leben der Gei­seln zu tun. Ein Häu­ser­kampf dau­ert lang und ist mit hohen Ver­lus­ten ver­bun­den. Die Israe­lis müs­sen sich zudem zwi­schen zwei unter­schied­li­chen Vor­ge­hens­wei­sen ent­schei­den, die die USA im Irak-Krieg erprobt haben. Die ers­te wäre eine Kom­bi­na­ti­on aus geziel­ten Luft­schlä­gen und den Ein­sät­zen von Spe­zi­al­kräf­ten – so gin­gen die Ame­ri­ka­ner 2016 und 2017 bei der Befrei­ung der Stadt Mos­sul von den Ter­ror­mi­li­zen des „Isla­mi­schen Staats“ (IS) vor. Die zwei­te Vari­an­te wäre eine fron­ta­le Inva­si­on mit Pan­zern und Infan­te­rie nach dem Modell der US-Trup­pen in Fal­lud­scha 2004.

Doch unab­hän­gig von den mili­tä­ri­schen Ent­schei­dun­gen im Gaza-Krieg: Der israe­lisch-paläs­ti­nen­si­sche Kon­flikt braucht eine poli­ti­sche Per­spek­ti­ve. Die ist jedoch weit und breit nicht in Sicht. Die Lage hat sich viel­mehr mit der neu­en Koali­ti­on von Minis­ter­prä­si­dent Ben­ja­min Netan­ja­hu ver­schärft. Sein Kabi­nett wird von reli­giö­sen jüdi­schen Par­tei­en unter­stützt und ist die am wei­tes­ten rechts ste­hen­de Regie­rung in der Geschich­te des Staa­tes Isra­el. Mitt­ler­wei­le leben mehr als 600.000 Sied­ler im West­jor­dan­land und in Ost-Jeru­sa­lem. Sie träu­men von der Wie­der­her­stel­lung des bibli­schen Judäa und Sama­ria. Der Preis hier­für: Die Gebie­te, die Paläs­ti­nen­ser bewirt­schaf­ten kön­nen, wer­den immer klei­ner und zersplitterter.

Eine Zwei-Staa­ten-Lösung für Isra­el und Paläs­ti­na hat so kei­ne Zukunft. Wenn der Kon­flikt wirk­lich gelöst wer­den soll, müs­sen bei­de Sei­ten Opfer brin­gen. Das sau­bers­te Sze­na­rio: Die Paläs­ti­nen­ser bekom­men das West­jor­dan­land, Ost-Jeru­sa­lem und den Gaza­strei­fen als Staats­ge­biet – ein Ter­rain, in dem sie in Wür­de und unab­hän­gig leben könn­ten. Die jüdi­schen Sied­ler müss­ten sich zurück­zie­hen. Dass dies mög­lich ist, hat Isra­el bereits im Jahr 2005 im Gaza­strei­fen vor­ex­er­ziert. Im Gegen­zug müss­te Isra­el abso­lu­te Sicher­heits­ga­ran­tien erhal­ten. Denk­bar wäre etwa ein ­Paläs­ti­nen­ser­staat mit ent­mi­li­ta­ri­sier­tem Sta­tus, der inter­na­tio­nal kon­trol­liert wird.

Eine der­ar­ti­ge poli­ti­sche Per­spek­ti­ve lässt sich natür­lich nicht per Knopf­druck her­stel­len. Es bedarf eines Pro­zes­ses mit vie­len Zwi­schen­schrit­ten. Belässt es Isra­el hin­ge­gen beim Feld­zug gegen die Hamas, kann es sich im bes­ten Fall eine Atem­pau­se ver­schaf­fen. Insta­bi­li­tät, Unru­he und Span­nung wer­den aber bleiben

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