Putin schwach wie nie. Zerfällt Russland? Der Westen sollte sich darauf vorbereiten!

Putin schwach wie nie. Zerfällt Russland? Der Westen sollte sich darauf vorbereiten. Leitartikel von Gudrun Büscher

Was war das? Da ist Jew­ge­ni Pri­go­schin: Er wagt den Auf­stand gegen sei­nen eins­ti­gen För­de­rer Putin. Er zieht mit sei­ner Söld­ner­trup­pe Wag­ner unge­hin­dert durch Russ­land, bringt den Flug­ha­fen von Ros­tow und Tei­le des Lan­des unter sei­ne Kon­trol­le, lässt min­des­tens sechs rus­si­sche Mili­tär­hub­schrau­ber und ein Flug­zeug abschie­ßen, zieht wei­ter bis kurz vor Mos­kau – und wil­ligt dann ein, ins Exil zu gehen.

Und da ist Wla­di­mir Putin: Er nennt Prigoschin­ einen „Ver­rä­ter“, spricht von einem „Stich in den Rücken“, von einer „töd­li­chen Bedro­hung für Russ­land“, kün­digt an, Pri­go­schin und sei­ne Män­ner wür­den für den Auf­stand „bezah­len“. Und dann geneh­migt er eine Amnes­tie für die Auf­stän­di­schen und lässt Pri­go­schin nach Bela­rus abzie­hen. Noch nie hat man Russ­lands Prä­si­den­ten so schwach gesehen.

Dass Auf­stän­di­sche ein­fach so vor­rü­cken kön­nen und nie­mand reagiert, ist eben­so erstaun­lich wie die Ein­nah­me von Ros­tow. Die Stadt ist kein Kuh­dorf in der rus­si­schen Prä­rie, son­dern eine Mil­lio­nen­stadt. Sie hat gro­ße Bedeu­tung als Logis­tik­zen­trum für die Ver­sor­gung des Don­bass und ist süd­li­ches Haupt­quar­tier der rus­si­schen Armee. Auch vie­le Ein­woh­ner zeig­ten sich erfreut. Sie ver­sorg­ten die Söld­ner mit Brot und Was­ser, eini­ge jubelten.

Selbst wenn die Wag­ner-Trup­pe inzwi­schen wie­der abge­zo­gen ist: Der mili­tä­ri­sche Auf­stand im eige­nen Land war eine Demü­ti­gung für den Prä­si­den­ten, die nicht ohne Fol­gen blei­ben wird. Der­zeit sieht es zwar so aus, als sei der Auf­stand abge­wehrt und Pri­go­schin kalt­ge­stellt, doch nichts ist mehr, wie es war für Wla­di­mir Putin. Der rus­si­sche Macht­ap­pa­rat und die Gesell­schaft ver­zei­hen eini­ges – Schwä­che der Füh­rung aber nicht.

Der Geist ist aus der Fla­sche – und er kehrt nicht dahin zurück. Auch der Putsch­ver­such gegen Michail Gor­batschow schei­ter­te 1991 zunächst. Doch ein paar Mona­te spä­ter war es vor­bei. Gor­bat­schow über­gab den Kof­fer mit dem Code für die Atom­waf­fen an Boris Jel­zin, und die Sowjet­uni­on war Geschichte.

Putin selbst erin­ner­te in sei­ner Brand­rede an 1917 – den Zer­fall des Reichs mit enor­men Gebiets­ver­lus­ten. „Das Ergeb­nis war die Tra­gö­die des Bür­ger­krie­ges“, sag­te er. Und zieht damit – erschre­ckend offen – eine Par­al­le­le zur Lage heu­te und deu­tet an, dass dem Staat der Zer­fall dro­hen könn­te. Was das in naher Zukunft bedeu­tet, ist unklar.

Die Ukrai­ne soll­te sich nicht zu früh die Hän­de rei­ben. Der Krieg ist noch lan­ge nicht vor­bei, er könn­te sogar noch hef­ti­ger wer­den. Ein ange­schla­ge­ner Putin, der sich in die Enge getrie­ben fühlt, kann noch unbe­re­chen­ba­rer und gefähr­li­cher wer­den, als er es ohne­hin schon ist.

Kein ein­zi­ges der Pro­ble­me, die zu die­sem Auf­stand führ­ten, ist gelöst. Mög­lich, dass Pri­go­schin bald einen „Unfall“ hat oder unheil­bar krank wird. Russ­land war noch nie zim­per­lich im Umgang mit Ver­rä­tern und sei­nen Fein­den. Aber auch das wür­de nichts ändern. Putin selbst hat Russ­land und die eige­ne Herr­schaft desta­bi­li­siert. Und die Freu­de der Men­schen über den Wag­ner-Ein­zug in Ros­tow zeigt, dass er offen­sicht­lich auch vie­le Rus­sin­nen und Rus­sen längst ver­lo­ren hat.

Doch noch ist es zu früh für einen Abge­sang auf den rus­si­schen Prä­si­den­ten. Es bleibt Zeit, eine Stra­te­gie für die Post-Putin-Ära zu ent­wi­ckeln, wenn die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on mög­li­cher­wei­se implo­diert ist. Auf die Fra­ge, was pas­siert, wenn Russ­land zer­fällt, und was dann zu tun ist, haben bis­her weder die Bun­des­re­gie­rung noch die EU noch die USA eine Antwort.

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