Ein Jahr Krieg: Leitartikel von Andreas Härtel zur Ukraine – Die Gewalt gegen das geschundene, attackierte Land nimmt weiter zu

Kurz vor dem ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine schickt der Kreml seine Truppen in die Offensive

Eine Sicher­heits­kon­fe­renz ohne Ein­la­dung an Mos­kau? So etwas war frü­her undenk­bar. Aber wor­über soll­te man schon reden zum jet­zi­gen Zeit­punkt? Kurz vor dem ers­ten Jah­res­tag des rus­si­schen Angriffs auf die Ukrai­ne schickt der Kreml sei­ne Trup­pen in die Offen­si­ve. Die Gewalt gegen das geschun­de­ne, atta­ckier­te Land nimmt immer noch wei­ter zu. Gesprä­che oder Ver­hand­lun­gen sind vor die­sem Hin­ter­grund in wei­ter Fer­ne. Dabei wird man natür­lich irgend­wann mit­ein­an­der reden müs­sen, um die­sen Krieg auf irgend­ei­ne Wei­se been­den zu können.

Das ist genau­so klar wie die Tat­sa­che, dass Kriegs­herr Putin nur die Spra­che der Stär­ke ver­steht, wes­halb der Wes­ten sei­ne Waf­fen­lie­fe­run­gen an Kiew bestimmt noch wird ver­län­gern und auch aus­wei­ten müs­sen. Liegt dar­in ein Wider­spruch? Ja und nein. Das Pro­blem ist, dass all jene, die mit gro­ßer Über­zeu­gungs­kraft für Ver­hand­lun­gen plä­die­ren wie der wort­ge­wal­ti­ge Phi­lo­soph Haber­mas, zwei Fra­gen nicht kon­kret beant­wor­ten können:

Wor­um genau soll es gehen in Ver­hand­lun­gen? Und mit wem soll man denn bit­te­schön reden? Putin?

Das schließt Wolo­dym­yr Selen­skyj aus begreif­li­chen Grün­den immer wie­der öffent­lich aus. Und es ist der­zeit auch kaum vor­stell­bar, dass sich Ver­tre­ter der EU und der USA mit dem Kriegs­herrn aus dem Kreml an einen Tisch set­zen. Ein Pro­blem ist zudem, dass alle Sei­ten zumin­dest öffent­lich bis­lang immer auf ihren Maxi­mal­zie­len beharrt haben. Das heißt für Selen­skyj und den Wes­ten: Russ­land muss hin­ter die Gren­zen vor der Erobe­rung der Krim 2014 zurück. Das heißt für Russ­land: die Ein­ver­lei­bung der Ost­ukrai­ne und – oft genug in aller Bru­ta­li­tät klar for­mu­liert – die Aus­lö­schung des Nachbarlands.

So geht das Leid auch nach einem Jahr Krieg wei­ter und wei­ter. Bis wann? Bis der Wes­ten ermü­det? Russ­lands Kriegs­wirt­schaft jeden­falls läuft allem Anschein nach run­der als erwar­tet. Es gibt Berich­te, wonach es Mos­kau gelingt, die west­li­chen Sank­tio­nen zu umge­hen und auf die­se Wei­se den Nach­schub für das Mili­tär zu sichern. Wie weit wird der Wes­ten vor die­sem Hin­ter­grund in sei­ner Unter­stüt­zung der Ukrai­ne gehen? So man­cher bemüht auch schon hier das Wort von der Kriegs­wirt­schaft. Das mag über­trie­ben klin­gen. Aber wahr ist: Wenn die EU und die USA die Regie­rung in Kiew wei­ter­hin im bis­he­ri­gen Umfang mit Muni­ti­on ver­sor­gen wol­len, muss die Rüs­tungs­in­dus­trie gestärkt wer­den; von der Auf­rüs­tung der euro­päi­schen Armeen ganz zu schweigen.

Und eben­so klar ist: Putins Russ­land wird nur dann ein Inter­es­se an Gesprä­chen haben, wenn es sich einem auf Dau­er star­ken oder gar zu star­ken Geg­ner gegen­über­sieht. Der­zeit ist in Mos­kau noch kei­ne Bereit­schaft zu Gesprä­chen erkenn­bar. Weil Putin kei­ne Ver­an­las­sung hat, an so etwas wie eine Nie­der­la­ge auch nur zu den­ken. Des­halb haben ja auch bei­de recht: Die­je­ni­gen, die auf mili­tä­ri­sche Stär­ke set­zen, eben­so wie jene, die auf Ver­hand­lun­gen drän­gen. Das ein­zu­se­hen, wür­de schon so man­chen Debat­ten nicht nur hier­zu­lan­de die Spit­ze nehmen.

Es ist ja auch noch kein Krieg ohne Ver­hand­lun­gen zu Ende gegan­gen, gleich ob es jetzt kla­re Sie­ger und Ver­lie­rer gab oder nicht. 

Ohne ein Gegen­hal­ten des Wes­tens stirbt die Ukrai­ne. Ohne Ver­hand­lun­gen aber droht der Kon­flikt ewig wei­ter­zu­ge­hen. Was auf kei­nen Fall ein­tre­ten darf, ist das Hor­ror­sze­na­rio eines auf Dau­er ein­ge­fro­re­nen, unge­lös­ten und mit Wer­ten maxi­mal auf­ge­la­de­nen Kon­flikts. Ein Paläs­ti­na oder Kasch­mir mit­ten in Euro­pa wäre für den Kon­ti­nent eine exis­ten­zi­el­le Bedro­hung. So etwas hät­te das Poten­zi­al, über Jah­re oder gar Jahr­zehn­te immer wie­der neue Schar­müt­zel oder Krie­ge her­vor­zu­brin­gen. Das wür­de nur einem in die Hän­de spie­len: dem aggres­si­ven Russ­land, wie wir es heu­te kennen.

_____________________

Quel­le: All­ge­mei­ne Zei­tung Mainz, Zen­tra­ler Newsdesk
Ori­gi­nal-Con­tent von: All­ge­mei­ne Zei­tung Mainz, über­mit­telt durch news aktuell

Foto­kre­dit: Ado­be­Stock 489658360