Kurz vor dem ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine schickt der Kreml seine Truppen in die Offensive
Eine Sicherheitskonferenz ohne Einladung an Moskau? So etwas war früher undenkbar. Aber worüber sollte man schon reden zum jetzigen Zeitpunkt? Kurz vor dem ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine schickt der Kreml seine Truppen in die Offensive. Die Gewalt gegen das geschundene, attackierte Land nimmt immer noch weiter zu. Gespräche oder Verhandlungen sind vor diesem Hintergrund in weiter Ferne. Dabei wird man natürlich irgendwann miteinander reden müssen, um diesen Krieg auf irgendeine Weise beenden zu können.
Das ist genauso klar wie die Tatsache, dass Kriegsherr Putin nur die Sprache der Stärke versteht, weshalb der Westen seine Waffenlieferungen an Kiew bestimmt noch wird verlängern und auch ausweiten müssen. Liegt darin ein Widerspruch? Ja und nein. Das Problem ist, dass all jene, die mit großer Überzeugungskraft für Verhandlungen plädieren wie der wortgewaltige Philosoph Habermas, zwei Fragen nicht konkret beantworten können:
Worum genau soll es gehen in Verhandlungen? Und mit wem soll man denn bitteschön reden? Putin?
Das schließt Wolodymyr Selenskyj aus begreiflichen Gründen immer wieder öffentlich aus. Und es ist derzeit auch kaum vorstellbar, dass sich Vertreter der EU und der USA mit dem Kriegsherrn aus dem Kreml an einen Tisch setzen. Ein Problem ist zudem, dass alle Seiten zumindest öffentlich bislang immer auf ihren Maximalzielen beharrt haben. Das heißt für Selenskyj und den Westen: Russland muss hinter die Grenzen vor der Eroberung der Krim 2014 zurück. Das heißt für Russland: die Einverleibung der Ostukraine und – oft genug in aller Brutalität klar formuliert – die Auslöschung des Nachbarlands.
So geht das Leid auch nach einem Jahr Krieg weiter und weiter. Bis wann? Bis der Westen ermüdet? Russlands Kriegswirtschaft jedenfalls läuft allem Anschein nach runder als erwartet. Es gibt Berichte, wonach es Moskau gelingt, die westlichen Sanktionen zu umgehen und auf diese Weise den Nachschub für das Militär zu sichern. Wie weit wird der Westen vor diesem Hintergrund in seiner Unterstützung der Ukraine gehen? So mancher bemüht auch schon hier das Wort von der Kriegswirtschaft. Das mag übertrieben klingen. Aber wahr ist: Wenn die EU und die USA die Regierung in Kiew weiterhin im bisherigen Umfang mit Munition versorgen wollen, muss die Rüstungsindustrie gestärkt werden; von der Aufrüstung der europäischen Armeen ganz zu schweigen.
Und ebenso klar ist: Putins Russland wird nur dann ein Interesse an Gesprächen haben, wenn es sich einem auf Dauer starken oder gar zu starken Gegner gegenübersieht. Derzeit ist in Moskau noch keine Bereitschaft zu Gesprächen erkennbar. Weil Putin keine Veranlassung hat, an so etwas wie eine Niederlage auch nur zu denken. Deshalb haben ja auch beide recht: Diejenigen, die auf militärische Stärke setzen, ebenso wie jene, die auf Verhandlungen drängen. Das einzusehen, würde schon so manchen Debatten nicht nur hierzulande die Spitze nehmen.
Es ist ja auch noch kein Krieg ohne Verhandlungen zu Ende gegangen, gleich ob es jetzt klare Sieger und Verlierer gab oder nicht.
Ohne ein Gegenhalten des Westens stirbt die Ukraine. Ohne Verhandlungen aber droht der Konflikt ewig weiterzugehen. Was auf keinen Fall eintreten darf, ist das Horrorszenario eines auf Dauer eingefrorenen, ungelösten und mit Werten maximal aufgeladenen Konflikts. Ein Palästina oder Kaschmir mitten in Europa wäre für den Kontinent eine existenzielle Bedrohung. So etwas hätte das Potenzial, über Jahre oder gar Jahrzehnte immer wieder neue Scharmützel oder Kriege hervorzubringen. Das würde nur einem in die Hände spielen: dem aggressiven Russland, wie wir es heute kennen.
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Quelle: Allgemeine Zeitung Mainz, Zentraler Newsdesk
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