Schluss mit der Scham – „Nimm keine Getränke von Fremden an!“ – „Trink nichts, was du nicht selbst bestellt hast!“

Berliner Morgenpost: Schluss mit der Scham – Leitartikel von Jessica Hock zum Thema K.o.-Tropfen

Da fragt man wahl­los zehn Bekann­te, ob sie von einer Frau in ihrem Umfeld wis­sen, die schon ein­mal K.o.-Tropfen ver­ab­reicht bekom­men hat – und her­aus kom­men zwei Fäl­le. Zwei von zehn. Es ist eine Tref­fer­quo­te, die nur scho­ckie­ren kann. Mich als jun­ge Frau viel­leicht sogar beson­ders, denn ich könn­te eine der bei­den sein.

Dabei hören wir doch die War­nun­gen unse­rer Eltern, Geschwis­ter, Freun­de: „Nimm kei­ne Geträn­ke von Frem­den an!“, sagen sie. „Pass auf dein Glas auf!“ Und: „Trink nichts, was du nicht selbst bestellt hast!“ Wir gehen nur in Grup­pen in Bars oder Clubs, um uns sicher zu füh­len, tei­len unse­ren Stand­ort mit Freun­den und Fami­lie. Wir zie­hen Sili­kon­auf­sät­ze über unse­re Glä­ser, damit uns kei­ner etwas unter­ju­belt, aber Wider­stand macht offen­bar erfin­de­risch: Wer ande­re unter Dro­gen set­zen will, tut es neu­er­dings mit einer Nadel in den Arm. Fäl­le von „Need­le Spiking“ gab es im ver­gan­ge­nen Som­mer in Ber­li­ner Szeneclubs.

Zwei von zehn Frau­en machen noch kei­ne reprä­sen­ta­ti­ve Umfra­ge, aber die Tref­fer­quo­te erschreckt. Ver­läss­li­che Zah­len zum Betäu­bungs­mit­tel­miss­brauch lie­gen nicht ein­mal dem Bun­des­kri­mi­nal­amt vor. Zu sel­ten wer­den Fäl­le gemel­det, weil Opfer sich schä­men. Sie glau­ben, sie hät­ten kei­ne stich­hal­ti­gen Bewei­se, ihnen wür­de ohne­hin nicht geglaubt oder der Täter sei unmög­lich aus­fin­dig zu machen.

Ein Man­gel an Ver­trau­en in den Rechts­staat, der nicht von unge­fähr kommt. Wie hat es die Rechts­an­wäl­tin Chris­ti­na Clemm zuletzt so tref­fend for­mu­liert, als es um häus­li­che Gewalt ging: „Jeder kennt Betrof­fe­ne. Aber nie­mand kennt einen Täter.“ Beim „Spiking“ ist es nicht anders. Da fragt sich Frau doch unwei­ger­lich: War­um sind immer noch wir es, die auf­pas­sen müs­sen? Die recht­zei­tig in der Not­auf­nah­me sein müs­sen, um in einen Becher zu pin­keln – wenn wir denn das Glück haben, es ins Kran­ken­haus zu schaffen.

Wenn unse­re Erfah­rung dann noch infra­ge gestellt wird, weil wir uns als Neben­wir­kung der Dro­gen an nichts genau­es erin­nern, ist das Desas­ter kom­plett. Shel­by Lynn ist so ein Bei­spiel, das zeigt, wie viel pas­sie­ren muss, damit mög­li­chen Fäl­len von K.o.-Tropfen-Gabe nach­ge­gan­gen wird. Bei der 24-Jäh­ri­gen wur­de nicht zeit­nah nach­ge­wie­sen, ob ihr beim Ramm­stein-Kon­zert in Vil­ni­us tat­säch­lich Dro­gen in den Drink gemischt wur­den. Die ört­li­che Poli­zei lehn­te daher Ermitt­lun­gen ab und bekam recht: Die Staats­an­walt­schaft in Vil­ni­us habe den Fall geprüft, es sei zu kei­ner Straf­tat gekom­men, hieß es am Frei­tag. „Ganz wie erwar­tet“, schreibt Shel­by Lynn auf Insta­gram. Die Anwäl­te Lin­de­manns hat­ten die Anschul­di­gun­gen demen­tiert, es gilt die Unschuldsvermutung.

Hier­zu­lan­de gilt der Miss­brauch von Betäu­bungs­mit­teln als schwe­re Straf­tat. Täter müs­sen mit einer Haft­stra­fe von bis zu fünf Jah­ren oder einer Geld­stra­fe rech­nen. Die Iro­nie: Der Wirk­stoff Gam­ma-Buty­ro­lac­ton (GBL) ist in Deutsch­land noch immer frei ver­käuf­lich, obwohl längst bekannt ist, dass er beson­ders gern als K.o.-Macher ein­ge­setzt wird.

Es ist egal, wes­sen Hand die Dro­gen träu­felt, ob er oder sie plant, sein Opfer aus­zu­rau­ben oder zu ver­ge­wal­ti­gen. Zur Moti­va­ti­on gehört immer auch ein per­fi­des Gefühl von Macht, das noch ver­stärkt wird durch die Tat­sa­che, dass Täter sich oft all­zu sicher wägen kön­nen. Wir brau­chen also lei­der immer noch Sicher­heits­kon­zep­te, nicht nur, aber vor allem für Frau­en. Aber wir brau­chen vor allem mehr Bereit­schaft, Ver­dachts­fäl­len nach­zu­ge­hen und här­te­re Kon­se­quen­zen für die Täter – wenn wir sie denn drankriegen.

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Quel­le: BER­LI­NER MOR­GEN­POST, Redaktion
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