Europa zeigt Stärke – Leitartikel von Christian Kerl zu Putin und der Ukraine

Berliner Morgenpost: Europa zeigt Stärke – Leitartikel von Christian Kerl zu Putin und der Ukraine

Das war kein guter Tag für den rus­si­schen Prä­si­den­ten, aber umso mehr für das demo­kra­ti­sche Euro­pa. Bei der Mili­tär­pa­ra­de auf dem Roten Platz waren Schwä­che­zei­chen Putins und sei­ner Armee nicht zu über­se­hen. Der lücken­haf­te Auf­marsch und Putins Rede mit den bekann­ten Ver­satz­stü­cken über Russ­lands angeb­li­chen Kampf gegen den Faschis­mus waren kei­ne Demons­tra­ti­on der Stär­ke, son­dern zeig­ten die Ner­vo­si­tät ange­sichts der Rück­schlä­ge im Krieg. Dann muss­te sich Putin auch noch vom ver­ein­ten Euro­pa vor­füh­ren las­sen, dass er mit sei­nem zen­tra­len Ziel im Ukrai­ne-Krieg längst geschei­tert ist. Egal, wie die Gefech­te wei­ter­ge­hen: Die Ukrai­ne ist durch Putins Aggres­si­on unwi­der­ruf­lich Teil des west­li­chen, demo­kra­ti­schen Euro­pas gewor­den – genau das, was der Kreml­herr­scher hat­te ver­hin­dern wollen.

Kanz­ler Scholz und Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin von der Ley­en ist mit einem Dop­pel-Auf­tritt im Straß­bur­ger EU-Par­la­ment und in Kiew ein ein­drucks­vol­les Signal gelun­gen. Die bei­den Deut­schen zeig­ten im Namen der Uni­on, dass Putins Ver­su­che, den Wes­ten ein­zu­schüch­tern, ver­geb­lich waren. Sie ver­spra­chen nicht nur wei­te­re mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung und Hil­fe beim Wie­der­auf­bau. Für die Ukrai­ne war die deut­li­che Zusa­ge, dass sie Mit­glied der Euro­päi­schen Uni­on wird, von eben­so gro­ßem Wert. Aber so wich­tig die­ser Schul­ter­schluss am Euro­pa­tag war: Die Spit­zen der EU müs­sen den Wor­ten auch Taten fol­gen lassen.

Schon die künf­ti­ge Waf­fen­hil­fe für die Ukrai­ne ist kein Selbst­läu­fer, die Anstren­gun­gen der Euro­pä­er haben sicht­lich nach­ge­las­sen. Zuletzt hat die Uni­on der Ukrai­ne groß­spu­rig eine Mil­li­on drin­gend benö­tig­ter Artil­le­rie-Gra­na­ten ver­spro­chen – und sich anschlie­ßend übel zer­strit­ten, wie die Lie­fe­rung orga­ni­siert wer­den soll.

Nicht weni­ger irri­tie­rend ist die Zöger­lich­keit, mit der die EU die weit grö­ße­ren Her­aus­for­de­run­gen eines Bei­tritts der Ukrai­ne angeht. In wel­chen Zeit­räu­men das rie­si­ge, aber arme Land die har­ten Auf­nah­me­kri­te­ri­en des Brüs­se­ler Clubs erfül­len könn­te, ist völ­lig unklar – einen Zwi­schen­be­richt hat die Kom­mis­si­on jetzt lie­ber ver­scho­ben. Die EU ist gegen­wär­tig ohne­hin nicht in der Lage, neue Mit­glie­der auf­zu­neh­men, Ent­schei­dun­gen dau­ern zu lan­ge und wer­den zu oft blo­ckiert. Wie groß die Auf­ga­be inne­rer Refor­men ist, hat der von Polen und ande­ren Ost­eu­ro­pä­ern ver­häng­te Import­stopp für Getrei­de aus der Ukrai­ne gezeigt. Eine bal­di­ge Club-Auf­nah­me der öst­li­chen Korn­kam­mer mit ent­spre­chen­den Sub­ven­ti­ons­an­sprü­chen wür­de vor allem in der Land­wirt­schaft für rie­si­ge Ver­wer­fun­gen sor­gen. Eine umfas­sen­de, schmerz­haf­te Reform der Agrar­för­de­rung ist unvermeidlich.

Aber die­se hei­ße Eisen wagt in Brüs­sel nie­mand anzu­fas­sen. Wor­auf war­tet von der Ley­en noch? Vor allem die EU-Kom­mis­si­on ist gefragt. Wenn die EU die Ukrai­ne nicht brüs­kie­ren will, muss sie sich zügig fit für eine gro­ße Erwei­te­rung machen. Klug wäre es, eben­so an Alter­na­ti­ven zu arbei­ten für den Fall, dass eine voll­stän­di­ge EU-Mit­glied­schaft so schnell nicht rea­li­siert wer­den kann. Aber weder das eine noch das ande­re passiert.

Dass Putin mit sei­nen Kriegs­zie­len weit­ge­hend schei­tern wird, soll­te die EU nicht zu fal­schen Schlüs­sen ver­lei­ten. Euro­pas neue Ord­nung nach dem Krieg wird eine poli­ti­sche Jahr­hun­dert­auf­ga­be. Ohne zügi­ge Anstren­gun­gen auch in Brüs­sel droht der Ukrai­ne spä­ter eine bit­te­re Ent­täu­schung. Und Euro­pa ein Ver­lust an Glaub­wür­dig­keit weit über Ost­eu­ro­pa hinaus.

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