Auf dem Weg zum Autismus-Gütesiegel arbeitet das BBW BIGGE eng mit der DRK- Autismus-Ambulanz zusammen
Bigge. Sie nehmen ihre Umwelt anders war, agieren entsprechend anders und brauchen vor allem eine möglichst störungsfreie Umgebung und klare Strukturen: Insgesamt 40 von rund 200 Azubis am Berufsbildungswerk (BBW) Bigge der Josefsheim gGmbH haben Autismus in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Um ihnen im Alltag speziell gerecht zu werden, hat sich das BBW auf den Weg zum sehr anspruchsvollen Autismus-Gütesiegel der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke (BAGBBW) und des Bundesverbandes Autismus Deutschland e.V. zur Förderung von Menschen mit Autismus gemacht. Dabei arbeiten BBW-Leiter Martin Künemund und die Fachstelle Autismus des BBW mit dem Fachberater Dirk Assmuth bereits seit mehreren Jahren eng mit Dr. Christian Hülsken und Vera Schwindt vom DRK-Autismus-Therapiezentrum in Brilon zusammen.
Vom Ausbildungsplatz über Ernährung und Wohnen bis hin zu regelmäßigen Beratungsangeboten:
Das Siegel mit seinen insgesamt 64 Qualitätskriterien zu erreichen, ist sehr anspruchsvoll: „Wir haben aber schon viel auf den Weg gebracht“, so Martin Künemund. „Wir wollen dem Teilnehmerkreis unbedingt noch spezieller gerecht werden und dies auch unserem Kostenträger, der Agentur für Arbeit, noch deutlicher nachweisen. Die Zusammenarbeit mit dem DRK Autismus- Therapiezentrum in Brilon ist dabei eine große Hilfe“, sagt Martin Künemund. Kennst Du einen Autisten, kennst Du auch nur einen Autisten, so sagt man. „Autistinnen und Autisten nehmen die Welt um sie herum ganz anders wahr und agieren auch anders.Um dem gerecht zu werden, können wir hier auch nur individuell rangehen und fragen: Welchen Förderbedarf hat er oder sie?“, betont Künemund. Mit Dirk Assmuth ist bereits ein Mitarbeiter als Ansprechpartner speziell für Teilnehmer mit Autismus geschult – ein weiterer wird 2023 diese Zusatzqualifikation erwerben. Es gibt regelmäßige Beratungstermine für die Teilnehmer und einen Arbeitskreis Autismus für die Mitarbeiter. „Das Treffen findet einmal im Quartal statt und umfasst stets 10 bis 15 Personen. Die Teilnehmer geben selbst Themen vor. Sie erarbeiten zum Beispiel neue Hilfsangebote, ausgehend von Erfahrungen und Fallbeispielen, die sie mitbringen. Hier sind wir schon gut aufgestellt“, so Künemund.
„Viele Autisten leiden an Reizüberempfindlichkeit, dies gilt es in der Raumgestaltung zu beachten“
Störung, Beeinträchtigung, Behinderung oder einfach nur „anders sein“? Wieweit das Thema Autismus mit all seinen Facetten noch im Verborgenen liegt, zeigen schon Probleme bei der Bezeichnung. Der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus beschreibt es so: „Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken.“ Es geht vor allem auch um Orientierung und Sicherheit. „Autisten fühlen sich oft durch die Umgebung behindert, durch Gruppensituationen oder wenn die Struktur nicht da ist, zum Beispiel in den Räumlichkeiten“, sagt Dr. Christian Hülsken. „Viele Autisten leiden an einer Reizüberempfindlichkeit, dies gilt es in der Raumgestaltung zu beachten.“ Bei einem Rundgang mit allen Gesprächspartnern konnte sich Dr. Hülsken ein Bild davon machen, welche Maßnahmen zum Beispiel bezüglich einer verbesserten Akustik schon getroffen worden sind. In einigen Räumen entstanden im gemeinsamen Gespräch noch Ideen für eine räumliche Umgestaltung.
Martin Künemund unterstreicht: „Wir können die Teilnehmer nicht an Rahmenbedingungen anpassen, sondern nur die Räumlichkeiten und Bedingungen an die Teilnehmer.“ Freundschaften schließen fällt schwer oder aber Ironie im Gesichtsausdruck des Gegenübers zu erkennen: So richtig erkannt wird die Störung oft erst im Grundschul-Alter oder noch später, wenn immer mehr Struktur und Routine wegbricht. „Es sind oft Eltern, die zu uns kommen, weil ihre Kinder in der Schule auf einmal total überfordert sind. Sie halten den Alltag gar nicht mehr durch, sind klassische Einzelgänger, die keine Hobbys haben, oder werden gemobbt“, unterstreicht Dr. Hülsken. Das sei der Moment, wo schließlich eine fachärztliche Diagnostik nötig ist, um die Kinder oder jungen Erwachsenen richtig zu fördern. „Dies kann eine den Unterricht begleitende Integrationskraft sein, die Arbeitsaufträge verdeutlicht, oder auch ein Nachteilsausgleich durch längere Zeit für Klausuren“, nennt Hülsken Beispiele. Er ermuntert Eltern, tätig zu werden: „Autismus bedeutet, mein Kind hat einen bestimmten Unterstützungsbedarf. Ich würde als Eltern immer schauen, warum es so oft auf dem schulischen Weg gescheitert ist. Es gibt noch Möglichkeiten!“ Viele lassen sich wirklich erst als Jugendliche diagnostizieren. „Außerdem sind die Grenzen zu ADHS bzw. ADS, das ja ebenfalls nicht wenige unserer Teilnehmer im BBW als Diagnose haben, schwimmend“, betont Fachberater Dirk Assmuth.
Mit der richtigen Förderung gelingt die Ausbildung
Gerade im Berufskolleg-Alter erleben alle drei Experten bei den meisten Heranwachsenden mit Autismus eine Bereitschaft, sich auf Unterstützung einzulassen. Sie sagen dann von sich selbst: „O.K., ich bin Autist!“ Und wollen aber dennoch auch das Gleiche erreichen wie andere: einen Berufsabschluss. Mit einer solchen Einstellung gelingt die Förderung dann auch. „Zuvor, im Alter von 14 oder 15 Jahren gibt es schon mal eine ganz andere Phase, gerade wenn die Diagnose noch nicht gut besprochen wurde. Dann wollen die Jugendlichen so sein wie alle anderen, was schwierig werden kann. Erst wenn die Diagnose anerkannt werden kann, gibt es eine realistische Chance, mit dem Heranwachsenden zu reflektieren, was seine Stärken und was die Schwächen sind. Mit einer guten und gründlichen Vorbereitung kann es dann auch gelingen, die Heranwachsenden zu integrieren.“
Was bedeutet das für ein Berufsbildungswerk? „In den Ausbildungsbereichen müssen wir zum Beispiel wechselnde Inhalte lange vorher ankündigen. Räumlichkeiten müssen gleichbleiben, möglichst viele symmetrische Dinge zum Einsatz kommen.
Und alle Mitarbeiter, auch im Speisesaal, sollten ein Grundwissen, jene im pädagogischen Bereich ein vertieftes Wissen haben“, sagt Martin Künemund.
Vera Schwindt, die seit Anfang März die Leitung des Autismus-Therapiezentrums von Christian Hülsken übernommen hat, betont: „Für uns im Therapiezentrum ist das BBW ganz wichtig. Wir können viele Teilnehmer hierhin vermitteln, von denen wir sagen: Dem traue ich einen Beruf zu, der braucht bestimmte Bedingungen, den schicke ich nach Bigge.“ Es sei so wichtig, dass den Eltern, aber auch zum Beispiel Familien-Beratungsstellen jemand sage, dass es Berufsbildungswerke gibt und dass ein Jugendlicher oder Heranwachsender mit Autismus ein Recht darauf hat, hier eine vollwertige Ausbildung mit Kammerabschluss absolvieren zu können, betont Martin Künemund.
Fachberater Dirk Assmuth ergänzt: „Wir erleben auch, dass sich die externen Ausbildungsbetriebe mehr auf Menschen mit Autismus einlassen. Arbeitgeber müssen zum Beispiel deuten können, dass diese so mit der Arbeit an sich beschäftigt sind, dass sie sich ansonsten lieber zurückziehen und darum vielleicht wie ein Einzelgänger wirken.“ Brummt etwa beim Job im Supermarkt die Tiefkühltruhe auf einmal anders, kann die Welt aus den Fugen geraten. „Menschen mit Autismus scheitern oft an Kleinigkeiten.“
„Es gibt nicht nur Barrieren, sondern besonders wichtig sind die Ressourcen eines Menschen mit Autismus. Das ist bei jedem so individuell, das auch spezifische Berufe auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Seltenheit sind.“ sagt Vera Schwindt. Für viele so genannte z.B. grüne Berufe oder auch IT können spezifische Interessen sogar von Vorteil sein. „Man hat die Chance, in den ersten Arbeitsmarkt integriert zu werden, bei Menschen mit Autismus schaffen dieses in der Regel 70 Prozent!“, betont Martin Künemund. Jeder Absolvent, der dies dank einer qualitativ hochwertigen Ausbildung schafft, ist eine Riesen-Motivation mehr für die Mitarbeiter. Und: Nach der Ergebnis-Quote fragt nicht zuletzt auch das Autismus-Gütesiegel.
Hintergrund:
Das Josefsheim-Team begleitet mehr als 800 Menschen jeden Alters. Sowohl das Berufsbildungswerk Bigge, das Heinrich-Sommer-Berufskolleg, die Werkstätten für behinderte Menschen in Bigge und Lipperode, die ambulanten und besonderen Wohnangebote an Standorten im Hochsauerlandkreis und Kreis Soest, die Heilpädagogische Kindertagesstätte Sonnenschein sowie der Franziskushof als Ausbildungs- und Werkstattbetrieb gehören zum Gesamtunternehmen Josefsheim gGmbH, dem führenden Inklusions-Dienstleister in Südwestfalen für Menschen mit Körper‑, Lern‑, Sinnes‑, psychischen, geistigen und Mehrfachbehinderungen sowie für Menschen, die kurzfristig oder dauerhaft einen besonderen Unterstützungsbedarf haben. Im Mittelpunkt steht hierbei immer der einzelne Mensch mit seinen individuellen Vorstellungen und Zielen, sowohl für die Beschäftigten, Mitarbeitenden, Bewohner:innen als auch den Mitwirkungsgremien der verschiedenen Unternehmensbereiche sowie den beiden Fördervereinen in Lipperode und Bigge.
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Quelle: Ulrike Becker, Josefsheim gGmbH, Bigge
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