„Multitasking“ hat seine Grenzen

Automatisiertes Fahren : Studie zur Übernahme durch den Fahrer

win­ter­berg-total­lo­kal : Hoch­sauer­land­kreis : Mit der Ein­füh­rung von Sys­te­men des hoch- und voll­au­to­ma­ti­sier­ten Fah­rens wird sich die Rol­le des Auto­fah­rers bzw. der Auto­fah­re­rin in Zukunft ver­än­dern. Unter bestimm­ten Umstän­den sind Neben­tä­tig­kei­ten erlaubt. Vor­ge­se­hen ist aber, dass der Fah­rer inner­halb weni­ger Sekun­den wie­der über­neh­men muss, wenn ihn das Sys­tem dazu auf­for­dert. Was aber wäre, wenn in einer poten­zi­ell kri­ti­schen Situa­ti­on die­se Auf­for­de­rung aus­bleibt ? Eine Stu­die von DEKRA und der TU Dres­den zu die­sem The­ma zeigt : In Sachen „Mul­ti­tas­king“ hat die mensch­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit Gren­zen. „Des­halb müs­sen an die tech­ni­sche Rei­fe auto­ma­ti­sier­ter Fahr­funk­tio­nen höchs­te Ansprü­che gestellt wer­den. Es ist uner­läss­lich, im Rah­men des Geneh­mi­gungs­pro­zes­ses sicher­zu­stel­len, dass das Sys­tem dem Men­schen unter kei­nen Umstän­den eine plötz­li­che Über­nah­me zumu­ten wird“, so Dr. Tho­mas Wag­ner, Ver­kehrs­psy­cho­lo­ge und Lei­ter der Begut­ach­tungs­stel­len für Fahr­eig­nung bei DEKRA.

Im Dezem­ber 2021 ist das ers­te Fahr­zeug­sys­tem des hoch auto­ma­ti­sier­ten Fah­rens (Level 3) in Euro­pa durch das Kraft­fahrt­bun­des­amt offi­zi­ell zuge­las­sen wor­den. Wer künf­tig mit die­sem Stau­as­sis­ten­ten unter­wegs ist, darf sich – auf Auto­bah­nen und ähn­li­chen Stra­ßen, bis zu einer Geschwin­dig­keit von 60 km/​h und unter wei­te­ren Rah­men­be­din­gun­gen – „vom Ver­kehrs­ge­sche­hen und der Fahr­zeug­steue­rung abwen­den“, so steht es in §1b des Stra­ßen­ver­kehrs­ge­set­zes. Gleich­zei­tig muss er aber „wahr­neh­mungs­be­reit blei­ben“, um jeder­zeit wie­der zu über­neh­men, wenn er durch das Fahr­zeug­sys­tem dazu auf­ge­for­dert wird oder wenn er erkennt, „dass die Vor­aus­set­zun­gen für eine bestim­mungs­ge­mä­ße Ver­wen­dung der hoch- oder voll­au­to­ma­ti­sier­ten Fahr­funk­tio­nen nicht mehr vorliegen“.

Ob es zusam­men­ge­hen wür­de, sich von der Fahr­zeug­steue­rung abzu­wen­den und zugleich wahr­neh­mungs­be­reit zu blei­ben und bei Feh­lern schnell ein­zu­grei­fen, haben Ver­kehrs­psy­cho­lo­gen von DEKRA gemein­sam mit Wis­sen­schaft­lern vom Lehr­stuhl der Inge­nieur­psy­cho­lo­gie der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Dres­den unter­sucht. „Der Wech­sel vom pas­si­ven Über­wa­cher zum akti­ven Ope­ra­tor als Reak­ti­on auf die Sys­tem­auf­for­de­rung ist für den Men­schen schon mit eini­gen Sekun­den Vor­war­nung durch­aus anspruchs­voll“, so Dr. Wag­ner. „Fah­ren­de müs­sen rasch ein Sys­tem- und Situa­ti­ons­ver­ständ­nis auf­bau­en, inner­halb von Sekun­den wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen tref­fen und sie in eine adäqua­te Fahr­hand­lung umsetzen.“

Was aber wür­de pas­sie­ren – und das steht im Mit­tel­punkt der Stu­die von DEKRA und TU Dres­den –, wenn in einer der­art neu defi­nier­ten Mensch-Maschi­ne-Schnitt­stel­le auch Stö­run­gen auf­tre­ten wür­den ? „Wir haben uns auf die Fra­ge nach der Über­nah­me­leis­tung im Fall bei feh­ler­haf­ten Sys­tem­war­nun­gen fokus­siert“, erklärt Dr. Wag­ner. „Das kann zum einen der fal­sche Alarm sein, also eine Über­nah­me-Auf­for­de­rung ohne tat­säch­li­che Gefah­ren­si­tua­ti­on, zum ande­ren der stil­le Alarm, also das Aus­blei­ben einer Auf­for­de­rung zur Über­nah­me, obwohl sie not­wen­dig wäre.“

Felduntersuchung am DEKRA Lausitzring

Für die Feld­un­ter­su­chung rekru­tier­ten die Ver­ant­wort­li­chen unter Stu­die­ren­den der TU Dres­den und der Fach­hoch­schu­le Senf­ten­berg sowie über öffent­li­che Netz­wer­ke knapp 90 Pro­ban­den, von denen am Ende 36 an den Ver­suchs­fahr­ten teil­nah­men. Ihnen war der tat­säch­li­che Hin­ter­grund der Stu­die dabei nicht bekannt. Sie waren im Schnitt seit rund acht Jah­ren im Besitz einer Fahr­erlaub­nis der Klas­se B, zwi­schen 19 und 48 Jah­ren alt und hat­ten durch­schnitt­lich ca. 9.400 Kilo­me­ter Fahr­er­fah­rung pro Jahr.

Das Test­fahr­zeug war pro­to­ty­pisch für Ver­su­che zum ver­netz­ten und hoch auto­ma­ti­sier­ten Fah­ren modi­fi­ziert. Sei­ne Sys­te­me ermög­lich­ten hoch­au­to­ma­ti­sier­tes Fah­ren mit voll­stän­di­ger Über­nah­me der Längs- und Quer­füh­rung auf einer zuvor ein­ge­fah­re­nen Stre­cke. Der Rund­kurs auf dem Gelän­de des DEKRA Lau­sitz­rings wur­de mehr­mals durch­fah­ren, die Höchst­ge­schwin­dig­keit lag bei 50 km/​h. Bei den Fahr­ten war ein aus­ge­bil­de­ter DEKRA Sicher­heits­fah­rer mit im Fahr­zeug, der mit einer zusätz­li­chen Brems­schal­tung ein­grei­fen konn­te. Auf dem Rück­sitz fuhr außer­dem der Ver­suchs­lei­ter mit und lei­te­te an zuvor fest­ge­leg­ten Punk­ten der Stre­cke per Knopf­druck ver­schie­de­ne Über­nah­me­sze­na­ri­en ein. Fahr­dy­na­mi­sche Daten wie Lenk­be­we­gun­gen, Brems­stär­ken und Fahr­ge­schwin­dig­kei­ten wur­den zur Aus­wer­tung in Echt­zeit an einen Com­pu­ter über­mit­telt und gespeichert.

„Falscher Alarm“ und „stille Alarme“

Wäh­rend der Test­fahr­ten wur­den jeweils ein „fal­scher Alarm“ und drei „stil­le Alar­me“ aus­ge­löst. In einem Fall gab das Fahr­zeug eine Über­nah­me­war­nung ab, ohne dass tat­säch­lich eine kri­ti­sche Situa­ti­on gege­ben war. „Die drei stil­len Alar­me betra­fen das Über­fah­ren einer Hal­te­li­nie mit Stopp­schild, das lang­sa­me Abdrif­ten auf die Gegen­fahr­bahn und das plötz­li­che Aus­wei­chen vor einem irr­tüm­lich erkann­ten Hin­der­nis“, erläu­tert Dr. Wag­ner. Alle vier Über­nah­me­sze­na­ri­en tra­ten auf, nach­dem schon meh­re­re Run­den ohne beson­de­re Vor­komm­nis­se durch­fah­ren wor­den waren.

Ein Teil der Pro­ban­den hat­te den Auf­trag, als pas­si­ve Über­wa­cher die auto­ma­ti­sier­te Fahrt zu ver­fol­gen und dann gege­be­nen­falls ein­zu­grei­fen, wenn sie es für not­wen­dig hiel­ten. Eine zwei­te Grup­pe soll­te wäh­rend der auto­ma­ti­sier­ten Fahrt zusätz­lich eine visu­ell bean­spru­chen­de Neben­tä­tig­keit an einem fest im Fahr­zeug instal­lier­ten Tablet erle­di­gen. Die Über­nah­me wur­de jeweils als erfolg­reich bewer­tet, wenn der Fah­rer oder die Fah­re­rin vor Errei­chen des poten­zi­el­len Kol­li­si­ons­punk­tes die kor­rek­te Über­nah­me­hand­lung ausführte.

Ergebnisse der Versuchsfahrten

Ins­ge­samt erwies sich die Über­nah­me nach einem „fal­schen Alarm“ als wenig pro­ble­ma­tisch : Alle Pro­ban­den über­nah­men erfolg­reich die Fahr­zeug­steue­rung, sowohl in der Expe­ri­men­tal­grup­pe mit Auf­ga­be am Tablet, als auch in der Kon­troll­grup­pe, die kei­ne Neben­tä­tig­keit aus­zu­füh­ren hat­te. „Beim stil­len Alarm sah das anders aus“, bilan­ziert DEKRA Exper­te Dr. Wag­ner. „Hier gab es deut­li­che Schwie­rig­kei­ten bei der Über­nah­me – und zwar eben­falls in bei­den Grup­pen. Aller­dings war die nicht erfolg­rei­che Über­nah­me in der Grup­pe mit Neben­tä­tig­keit über alle Sze­na­ri­en hin­weg etwa dop­pelt so häufig.“

Mit der Neben­tä­tig­keit sinkt also in den meis­ten Fäl­len die Wahr­schein­lich­keit für eine erfolg­rei­che Über­nah­me beim „stil­len Alarm“. Auf­fäl­lig war für die Ver­ant­wort­li­chen der Stu­die aber, dass auch Per­so­nen ohne Neben­tä­tig­keit teil­wei­se erheb­li­che Schwie­rig­kei­ten hat­ten. Je nach Sze­na­rio waren in der Expe­ri­men­tal­grup­pe mit der Tablet-Auf­ga­be zwi­schen 58 und 89 Pro­zent der Pro­ban­den bei der Über­nah­me im Fall des „stil­len Alarms“ nicht erfolg­reich. In der Kon­troll­grup­pe lagen die Wer­te zwi­schen 24 und 61 Pro­zent. „Dass in die­ser Grup­pe, die kei­ne Neben­auf­ga­be hat­te, beim Über­fah­ren der Hal­te­li­nie über 60 Pro­zent und beim Abkom­men von der Fahr­spur mehr als 30 Pro­zent nicht erfolg­reich über­nom­men haben, hat uns über­rascht“, so Dr. Wagner.

Forschungslücke

Gera­de beim Aspekt der „stil­len Alar­me“ gibt es aus Sicht der DEKRA Exper­ten und TU-Wis­sen­schaft­ler bis­her eine ech­te For­schungs­lü­cke : Weni­ger als zehn Pro­zent bis­lang publi­zier­ter Arbei­ten befas­sen sich mit so genann­ten „Dis­en­ga­ge­ment-Situa­tio­nen“, also einem feh­ler­be­ding­ten Sys­tem­aus­fall. „Der wahr­schein­lich sicher­heits­kri­tischs­te Aspekt der hoch­au­to­ma­ti­sier­ten Fahr­auf­ga­be ist in der bis­he­ri­gen For­schungs­la­ge stark unter­re­prä­sen­tiert“, so Dr. Wag­ner. „Wir müs­sen die Fra­ge dis­ku­tie­ren, ob eine Neben­tä­tig­keit in Kom­bi­na­ti­on mit einem Min­dest­maß an Über­wa­chung des Fahr­sys­tems und der Ver­kehrs­la­ge, so wie sie das Gesetz in sei­ner aktu­el­len Form vor­sieht, über­haupt men­schen­mög­lich und sicher aus­führ­bar ist“, mahnt der Experte.

DEKRA wird sich mit wei­te­rer For­schungs­ar­beit und Tech­nik in die­sem The­men­feld einbringen.

 

Bild : Fahr­ver­su­che mit Pro­ban­den auf dem DEKRA Lau­sitz­ring : Neben­tä­tig­keit und Auf­merk­sam­keit auf den Stra­ßen­ver­kehr sind kaum zu ver­ein­ba­ren – auto­ma­ti­sier­te Fahr­funk­tio­nen müs­sen des­halb so zuver­läs­sig sein, dass eine plötz­li­che Über­nah­me nicht not­wen­dig wer­den kann.

 

Foto­credits : DEKRA

Quel­le : DEKRA e. V. Stuttgart

 

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