Winterberg-Totallokal : Stichwort der Woche, von Norbert Schnellen
winterberg-totallokal : Stellen Sie sich vor, der Chef der Jungen Union würde in einem Interview zu seiner Einstellung zum Christentum befragt und würde sich dabei zum Atheismus bekennen und das Christentum als eine gescheiterte Weltanschauung bezeichnen. Der Mann wäre sicher eine totale Fehlbesetzung und sein Verbleib im Amt wäre nur noch eine Frage von Stunden. Wenn aber der Vorsitzende der Jungsozialisten zu seiner Einstellung zum Sozialismus gefragt wird, hat er offensichtlich ein Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft und zum Kapitalismus abzugeben und sollte den Sozialismus als gescheiterte Ideologie weit von sich weisen. Anders kann man die aufgebrachten Reaktionen auf das Zeit-Interview von Kevin Kühnert in der vergangen Woche nicht interpretieren. Bei dieser Diskussion wird einem plötzlich wieder klar, wie sehr sich die Kultur der politischen Debatten in unserer Gesellschaft verändert hat.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wäre es sicher sinnvoller gewesen, einen sachlichen Systemabgleich vorzunehmen, die Schwächen des „real existierenden Sozialismus“ genau zu analysieren und auf der anderen Seite auch die Schwächen eines ungezügelten Kapitalismus aufzuzeigen. Daraufhin hätte man vielleicht ein Gesellschaftssystem entwickeln können, mit dem man die sozialen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern kann. Stattdessen sind die Vertreter eines reinen Marktliberalismus, der mit einer sozialen Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard keinerlei Gemeinsamkeiten hat, in einen Siegestaumel verfallen und feiern sich noch heute als Gewinner im Wettstreit der Systeme. Apropos Ludwig Erhard, der Mann erkannte schon in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, dass ein immerwährendes und uneingeschränktes Wachstum nicht möglich und auch nicht erstrebenswert ist. Zu dieser einfachen Erkenntnis sind die Vertreter eines marktliberalen Kapitalismus bis heute nicht gekommen. Der Vater der sozialen Marktwirtschaft war ein hochintelligenter und vorausschauender Kopf, Eigenschaften, die man bei heutigen Wirtschaftswissenschaftlern vergeblich sucht.
Natürlich kann man Kühnerts Forderungen nach mehr Sozialismus skeptisch beurteilen, aber dennoch sollte man offen darüber diskutieren können, wie eine gerechtere Gesellschaft aussehen soll. Es ist sicherlich sinnvoller jetzt auf friedlichem Wege einen demokratischen Konsens über eine gerechtere Zukunft zu finden, als eine Radikalisierung von Menschen, die sich vernachlässigt fühlen, zu riskieren. Die Rattenfänger an den extremen Rändern des politischen Spektrums warten nur auf ihre Gelegenheit. Die Alternative lautet heute nicht mehr „Freiheit statt Sozialismus“, sondern „Freiheit statt Kapitalismus“.
Ihr Norbert Schnellen