Ganz offensichtlich nicht nur Einzelfälle oder „schwarze Schafe“ – Die Evangelische Kirche in Deutschland hatte es nicht eilig …

Berliner Morgenpost: Schutzraum für Täter, ein Kommentar von Walter Bau zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche

Die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land hat­te es nicht eilig. Nur schlep­pend kam die Auf­ar­bei­tung sexua­li­sier­ter Gewalt in kirch­li­chen Ein­rich­tun­gen vor­an. Wäh­rend sich auf katho­li­scher Sei­te über Jah­re Ent­hül­lung an Ent­hül­lung reih­te, konn­te man den Ein­druck gewin­nen, als ver­steck­ten sich die Amts­trä­ger bei den Pro­tes­tan­ten gern hin­ter den Skan­da­len, die bei den Katho­li­ken bis in den Vati­kan hin­ein­reich­ten. Die ers­te Quit­tung für die­se zöger­li­che Hal­tung erhielt die evan­ge­li­sche Kir­che im vori­gen Novem­ber mit dem Rück­tritt der EKD-Rats­vor­sit­zen­den Annet­te Kur­schus. Zuvor war der Druck auf die Chef-Theo­lo­gin enorm gewach­sen. Es waren gegen sie Vor­wür­fe erho­ben wor­den, sie habe schon vor vie­len Jah­ren vom Ver­dacht eines sexu­ell über­grif­fi­gen Ver­hal­tens durch einen dama­li­gen Kir­chen­mit­ar­bei­ter gewusst. Am Ende war Kur­schus nicht mehr zu halten.

Und nun liegt also end­lich die ers­te umfas­sen­de Stu­die zu sexua­li­sier­ter Gewalt bei den Pro­tes­tan­ten vor. Min­des­tens 1259 Mit­ar­bei­ter von evan­ge­li­scher Kir­che und Dia­ko­nie, so ist in dem Report unab­hän­gi­ger Wis­sen­schaft­ler nach­zu­le­sen, sol­len in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten sexua­li­sier­te Gewalt aus­ge­übt haben. 

Damit ist klar: Auch in der evan­ge­li­schen Kir­che geht es ganz offen­sicht­lich nicht um Ein­zel­fäl­le oder „schwar­ze Scha­fe“, wie so man­cher Amts­trä­ger immer noch gehofft hat­te; viel­mehr geht es um eine Insti­tu­ti­on, die mehr dar­auf bedacht war, das gan­ze Aus­maß der Gewalt in ihren Rei­hen mög­lichst nicht an die Öffent­lich­keit gelan­gen zu las­sen, als sich um den Schutz der Opfer eben die­ser Taten zu küm­mern. Anders ist die hohe Zahl von fast 1300 Beschul­dig­ten nicht zu erklä­ren. Und es ist damit zu rech­nen, dass sich nach Ver­öf­fent­li­chung der Stu­die wei­te­re Opfer melden.

Erneut zeigt sich, dass die bei­den gro­ßen Amts­kir­chen in Deutsch­land über Jahr­zehn­te hin­weg von skru­pel­lo­sen Tätern als Schutz­raum für das Aus­le­ben ihrer sexu­el­len Gewalt­fan­ta­sien gese­hen wur­den – und die­se Gewalt gegen genau jene aus­üb­ten, die guten Glau­bens in eben­die­ser Kir­che einen Schutz­raum für sich selbst sahen.

Ent­spre­chend stellt die neue Stu­die einen wei­te­ren Schlag für die Glaub­wür­dig­keit der Kir­che ins­ge­samt in Deutsch­land dar. Und das zu einer Zeit, da sich die Men­schen scha­ren­wei­se von der Kir­che und vom Glau­ben ins­ge­samt abwen­den. Der schon jetzt immense Ver­lust an Ver­trau­en und an gesell­schaft­li­cher Rele­vanz bei der katho­li­schen und der pro­tes­tan­ti­schen Kir­che hier­zu­lan­de wird wei­ter­ge­hen und die Bischö­fe und Rats­vor­sit­zen­den in den Chef­eta­gen wer­den es schwer haben, die­sen Trend zu stop­pen oder gar umzukehren.

Dass die evan­ge­li­sche Kir­che – wenn auch spät – mit die­ser Stu­die den Weg zur Auf­ar­bei­tung in den eige­nen Rei­hen ein­ge­schla­gen hat, ist ein wich­ti­ger, aber auch nur ein ers­ter Schritt. Das Dun­kel­feld dürf­te damit noch nicht kom­plett aus­ge­leuch­tet sein. Die Ham­bur­ger Bischö­fin Kirs­ten Fehrs, die seit dem Rück­tritt von Annet­te Kur­schus als amtie­ren­de Rats­vor­sit­zen­de die Evan­ge­li­sche Kir­che in Deutsch­land lei­tet, sag­te bei der Vor­stel­lung der Stu­die, sie kön­ne die Opfer und die Kir­chen­mit­glie­der nur „von gan­zem Her­zen“ um Ent­schul­di­gung bit­ten. Das ist sicher ehr­lich gemeint – aber eine Ent­schul­di­gung allein wird nicht rei­chen. Die Kir­che hat noch einen Weg vor sich, um Ursa­chen wie Aus­wir­kun­gen der Fäl­le sexua­li­sier­ter Gewalt in ihren Rei­hen auf­zu­klä­ren. Ob die Amts­kir­chen die Kraft dazu fin­den, muss sich erst noch zeigen.

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Quel­le: BER­LI­NER MOR­GEN­POST, Redaktion
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