„Berliner Morgenpost“: Es ist höchste Zeit – Leitartikel von Christian Kerl zur Asylpolitik

„Berliner Morgenpost“: Es ist höchste Zeit – Leitartikel von Christian Kerl zur Asylpolitik

Das ist eine fol­gen­rei­che Zäsur für die Flücht­lings­po­li­tik in Deutsch­land: Schutz­su­chen­de aus der Ukrai­ne kom­men in die­sem Jahr deut­lich weni­ger zu uns, dafür steigt die Zahl der Men­schen aus Asi­en und Afri­ka, die dau­er­haf­tes Asyl bean­tra­gen. 80 Pro­zent mehr Asyl­be­wer­ber in den ers­ten Mona­ten mel­den die Behör­den, der Druck wächst: Ver­stärkt suchen Migran­ten aus Tune­si­en den Weg nach Euro­pa, bald aus dem Kri­sen­land Sudan und dem­nächst womög­lich aus der Tür­kei, wenn dort nach einem Macht­wech­sel ein här­te­rer Umgang mit Flücht­lin­gen aus Syri­en begin­nen soll­te. Es gibt also gute Grün­de, dass vor dem Flücht­lings­gip­fel nächs­te Woche nicht mehr nur über Geld gespro­chen wird, son­dern ver­stärkt über die Ver­säum­nis­se der – vor allem euro­päi­schen – Asylpolitik.

Die Koali­ti­on nutzt die Chan­ce, mit for­schen For­de­run­gen an Euro­pa Hand­lungs­stär­ke zu demons­trie­ren. Doch soll­te sie mit offe­nen Kar­ten spie­len: Was SPD und Libe­ra­le nun an Ideen für eine här­te­re Linie beim Flücht­lings­recht prä­sen­tie­ren, liegt auf EU-Ebe­ne schon seit Jah­ren als Vor­schlag auf dem Tisch, ist dort aber noch immer umstrit­ten. Bevor die Bun­des­re­gie­rung in Brüs­sel eine Eini­gung beför­dern kann, müss­ten erst die Grü­nen in der Koali­ti­on ihre Brems­ma­nö­ver auf­ge­ben. Ohne­hin ist noch offen, ob die euro­päi­sche Asyl­re­form über­haupt kommt. Aller­dings: Die über­all stei­gen­den Flücht­lings­zah­len haben in vie­len Haupt­städ­ten den Eini­gungs­wil­len erhöht, auch in Ost­eu­ro­pa. Die nahen­de Euro­pa­wahl trägt mit dazu bei, dass der Still­stand auf einer der größ­ten poli­ti­schen Bau­stel­len tat­säch­lich been­det wer­den könnte.

Es wäre höchs­te Zeit: Die in Brüs­sel vor­be­rei­te­te Reform sieht eine kon­se­quen­te Regis­trie­rung und Über­prü­fung aller Migran­ten vor, was einen bes­se­ren Schutz der EU-Außen­gren­zen vor­aus­setzt. Ein gewag­ter Ein­schnitt ist der Plan, die Asyl­ver­fah­ren für abseh­bar wenig aus­sichts­rei­che Fäl­le bereits an den Außen­gren­zen abzu­wi­ckeln und abge­lehn­te Bewer­ber gleich wie­der zurück­zu­schi­cken. Abschre­cken­de Wir­kung sol­len auch viel kon­se­quen­te­re Abschie­bun­gen in Koope­ra­ti­on mit den Her­kunfts­län­dern haben. Das alles sind rich­ti­ge Schrit­te, um jene Migran­ten, die offen­sicht­lichkei­nen Schutz­an­spruch haben, davon abzu­hal­ten, ihre gefähr­li­che Rei­se nach Euro­pa über­haupt zu star­ten. Es wäre auch ein Bei­trag, um den Schlep­per­ban­den das Hand­werk zu legen.

Ein gro­ßes Man­ko ist aber, dass eine Ver­pflich­tung für alle EU-Län­der, einen Teil schutz­be­dürf­ti­ger Flücht­lin­ge auf­zu­neh­men, bis auf Wei­te­res nicht durch­setz­bar ist. Dass sich der Zuzug von Asyl­be­wer­bern nach Deutsch­land schnell deut­lich ver­rin­gern wird, ist des­halb unwahr­schein­lich. Lei­der fehlt der EU die Kraft zum gro­ßen Wurf, mit dem sich Migra­ti­on wirk­sam steu­ern lie­ße: mit einem Asyl­sys­tem, das gefähr­li­che Mit­tel­meer­über­fahr­ten über­flüs­sig macht, weil Migran­ten schon außer­halb Euro­pas Asyl in der EU bean­tra­gen könn­ten. Mit gere­gel­ten Chan­cen auf einen lega­len Auf­ent­halt in Euro­pa auch jen­seits des Asyl­rechts. Und mit soli­da­ri­scher Ver­tei­lung inner­halb der EU. Die geplan­te Asyl-Reform reicht nicht, aber sie wäre immer­hin ein ers­ter Schritt. Die Balan­ce bleibt schwie­rig. Wenn die Flücht­lings­po­li­tik wei­ter von einer gesell­schaft­li­chen Mehr­heit akzep­tiert wer­den soll, braucht es mehr Ord­nung an den Gren­zen und weni­ger irre­gu­lä­re Migra­ti­on – aber die Huma­ni­tät darf nicht auf der Stre­cke blei­ben. Abschre­ckung allein ist kei­ne Lösung: Wer mit guten Grün­den Schutz braucht in Euro­pa, muss ihn wei­ter bekommen.

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Quel­le: BER­LI­NER MORGENPOST
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