Bislang kein einheitlicher Ansatz – Ressortübergreifend vorgehen – Politischer Wille gefragt
Migrant*innen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus haben aufgrund restriktiver nationaler Gesetze in vielen europäischen Ländern keinen oder nur stark eingeschränkten Zugang zu sozialen Leistungen. Kommunen entwickeln mitunter lokale Lösungsansätze, um diesen Teil ihrer Bevölkerung in die Grundversorgung einzubeziehen. Welche Strategien und innovativen Praktiken sie einsetzen und vor welchen rechtlichen, politischen und praktischen Herausforderungen sie stehen, hat ein europäisches Verbundprojekt anhand von drei Fallstudien untersucht. Die Projektergebnisse stehen Kommunen in Form von Handlungsempfehlungen zur Verfügung.
Die Fallstudien führte das Forschungsprojekt in Frankfurt am Main, in der österreichischen Hauptstadt Wien und im walisischen Cardiff durch. Vor allem die Bereiche Gesundheitsversorgung, Wohnen bzw. Unterbringung, Bildung und Gewaltschutz sowie die Situation von Frauen nahm das europäische Forschungsteam in den Blick.
„Wir haben in allen drei Kommunen Beispiele für gelungene Inklusion gefunden. Frankfurt etwa stellt unabhängig vom Aufenthaltsstatus Gesundheitsversorgung bereit. Als einzige der drei untersuchten Städte bietet es direkt als Kommune eine allgemeinmedizinische und eine gynäkologische Sprechstunde sowie eine Kindersprechstunde in den Räumlichkeiten des Gesundheitsamtes an. Wien finanziert sogenannte Chancenhäuser, die Unterkunft und Beratung bieten, und Cardiff stellt Schuluniformen zur Verfügung“, erläutert Dr. Maren Kirchhoff von der Hochschule Fulda, die gemeinsam mit Professor Dr. Ilker Ataç die Fallstudie in Frankfurt am Main durchführte.
Wie wichtig die Inklusion von Migrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus in die Stadtbevölkerung ist und welche Gefahren die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung zum Beispiel von der Gesundheitsversorgung und Leistungen der Wohnungslosenhilfe für die Kommunen birgt, hat zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt. Städte boten Tests und Behandlungen für Migrant*innen mit unklarem Aufenthaltsstatus an, führten inklusive Unterbringungsprogramme ein und erleichterten den Zugang zur Rechtberatung. „Die positiven Auswirkungen dieser Maßnahmen sind weithin anerkannt“, sagt Professor Ataç.
Bislang kein einheitlicher Ansatz
Allerding stellten die Wissenschaftler*innen auch fest: Inklusive Praktiken werden zum Teil nach dem Ermessen einzelner Mitarbeiter*innen angeboten und nicht im Rahmen allgemeiner kommunalpolitischer Inklusion. „Den Städten fehlt bislang ein abgestimmter, einheitlicher Ansatz für den Umgang mit dieser besonders vulnerablen Gruppe“, bringt es Professor Ataç auf den Punkt.
In Frankfurt etwa wird obdachlosen Migrant*innen mit prekärem Status eine mittel- und längerfristige Unterbringung in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe gewährt, wenn sie als akut vital gefährdet eingestuft werden. Cardiff setzt auf Entscheidungen aus humanitären Gründen, und Wien verlässt sich auf den Eindruck von Mitarbeiter*innen hinsichtlich der Zukunftsaussichten von Bewerber*innen. „Wenn Inklusion hauptsächlich auf Basis der persönlichen Einstellung der Bewertenden erfolgt, dann erzeugt das nicht nur Unklarheiten in den Verfahren, sondern wirkt sich auch nachteilig auf den allgemeinen Zugang zu Leistungen aus“, unterstreicht Professor Ataç.
Ressortübergreifend vorgehen
Das Forschungsteam, dem auch Wissenschaftler*innen der Universität Wien und der Universität Oxford angehörten, hat daher auf Basis der drei Fallstudien lokale Lösungsansätze entwickelt und Handlungsempfehlungen für die Kommunen erarbeitet. Um die Situation von Migrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus zu verbessern, empfiehlt es den Kommunen, einen ressortübergreifenden Ansatz und eine Vision für die Inklusion von Migrant*innen mit prekärem Status als Stadtbewohner*innen zu entwickeln sowie klare Schritte für deren Umsetzung zu definieren. „Migrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus sind mit komplexen und sich überlagernden Problemen konfrontiert, die nicht in die Strukturen der städtischen Abteilungen passen, sondern vielmehr quer zu den verschiedenen Zuständigkeiten verlaufen“, begründet Maren Kirchhoff die Empfehlung.
Lokale Lösungsansätze
Die Forschenden raten unter anderem, die Leistungsansprüche und Ermessensspielräume angesichts komplexer Gesetze und Regelungen zu klären, angstbedingte Hindernisse für die Inanspruchnahme von Leistungen abzubauen, indem auf die Erfassung statusbezogener Daten verzichtet wird, und die Rechtsberatung ausbauen, denn sie sei von zentraler Bedeutung, um den prekären Status aufzulösen.
Darüber hinaus empfiehlt das Forschendenteam, die Zusammenarbeit und den Informationsfluss innerhalb der Behörden auszubauen und nicht zuletzt die Kooperation mit den nichtstaatlichen Leistungserbringer zu stärken. Denn diese würden bei der Versorgung von Migrant*innen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus eine Schlüsselrolle einnehmen, sich jedoch mit Finanzierungsproblemen und zunehmend auch Überlastungssituationen konfrontiert sehen. Auch regen die Wissenschaftler*innen an, Lehren aus den Ansätzen zu ziehen, die sich im Umgang mit der Pandemie als erfolgreich erwiesen haben.
Politischer Wille gefragt
Entscheidend sei der Wille, Ausgrenzungen abzubauen. „Für umfassend inklusive Ansätze brauchen Kommunen den politischen Willen, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, Mittel verfügbar zu machen und die Leistungen für ihre Einwohner*innen unabhängig vom Aufenthaltsstatus zu gewährleisten“, betont Professor Ataç. Gemeinsam mit seinen Forschungskolleg*innen rät er aber auch, über die lokale Ebene hinaus aktiv zu werden und politische Instrumente auf nationaler und europäischer Ebene zu nutzen.
Die kompletten Handlungsempfehlungen sind abrufbar unter: https://www.hs-fulda.de/LoReMi_Policy_Brief_DEU.pdf
Ein vergleichender Projektbericht sowie die drei Fallstudien stehen unter dem Stichwort „Publikationen“ hier zur Verfügung: https://www.hs-fulda.de/sozialwesen/forschung/sozialer-raum-sozialstrukturanalyse/loremi
Über das Projekt
Das Projekt wurde in den Jahren 2021 und 2022 durchgeführt unter dem Titel „Local Responses to precarious Migrants: Frames, Strategies and evolving Practises in Europe (LoReMi)“. Es umfasste Interviews, Runde Tische mit Stakeholdern in drei Städten und Diskussionen der Projektergebnisse sowie ihrer Auswirkungen auf einer internationalen Konferenz im September 2022 in Zusammenarbeit mit der City Initiative on Migrants with Irregular Status in Europe (C‑MISE, Städteinitiative für Migrant*innen mit irregulärem Status in Europa).
Finanziert wurde das Projekt im Rahmen des Horizon 2020-Programms der EU von der Joint Programming Initiative Urban Europe mit knapp 120.000 Euro. Die Finanzierung wurde durch nationale Förderorganisationen – das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die österreichische Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) und das britische Economic and Social Research Council (ESRC) – bereitgestellt.
Quelle: Wissenschaftliche Ansprechpartner
Professor Dr. Ilker Ataç, Hochschule Fulda
Dr. Maren Kirchhoff, Hochschule Fulda
Wissenschaftskommunikation, Dr. Antje Mohr, Hochschule Fulda
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