ZERRISSENE TRÄUME. Expressionistische Kunst vom Aufbruch in die Moderne bis zur NS-Verfolgung

ZERRISSENE TRÄUME. Expressionistische Kunst vom Aufbruch in die Moderne bis zur NS-Verfolgung

Sonderausstellung im Sauerland-Museum ab dem 29. November

Hoch­sauer­land­kreis: “ZER­RIS­SE­NE TRÄU­ME” bil­det nach “August Macke – ganz nah” und “Im Wes­ten viel Neu­es” den Abschluss der Expres­sio­nis­mus-Tri­lo­gie im Sau­er­land-Muse­um. Die­se Aus­stel­lung wei­tet den Blick auf die kunst­his­to­ri­schen Wir­kun­gen des Auf­bruchs in die Moder­ne und die Ein­flüs­se der his­to­ri­schen Ereig­nis­se auf das künst­le­ri­sche Schaffen.

Historische Einordnung

Die deut­sche Kunst­ge­schich­te des 20. Jahr­hun­dert besticht mit einem zuvor uner­reich­ten Vari­an­ten­reich­tum. Die gro­ßen Neue­run­gen in der Kunst­pro­duk­ti­on began­nen 1905 mit ful­mi­nan­ter Durch­schlags­kraft, als die ers­ten Aus­stel­lun­gen der Künst­ler­grup­pe “Die Brü­cke” in Dres­den die inter­es­sier­te Öffent­lich­keit über­wäl­tig­ten. Sie begrün­det den “Expres­sio­nis­mus”, wie er erst spä­ter bezeich­net wird. Die sie trei­ben­de Idee for­mu­lier­ten die Künst­ler in einem kurz gefass­ten Pro­gramm, in dem es heißt: “Mit dem Glau­ben an Ent­wick­lung an eine neue Gene­ra­ti­on […] rufen wir alle Jugend zusam­men und als Jugend, die die Zukunft trägt, wol­len wir uns Arm- und Bein­frei­heit ver­schaf­fen gegen­über den wohl­an­ge­ses­se­nen älte­ren Kräf­ten.” Das Revo­lu­tio­nä­re in ihren Bild­kom­po­si­tio­nen bezog sich auf das Abrü­cken von der Lokal­far­big­keit und die Defor­ma­ti­on als Gestal­tungs­prin­zip. Letz­te­re präg­te vor allem ihre Druck­gra­fik und mit ihren Holz­schnit­ten erlang­te die deut­sche Kunst erst­mals seit Albrecht Dürer wie­der welt­wei­te Beachtung.

Sechs Jah­re spä­ter ver­stan­den sich Was­si­ly Kan­din­sky und Franz Marc als “Der Blaue Rei­ter”, auch sie im Selbst­ver­ständ­nis eine Gemein­schaft, die mit den Tra­di­tio­nen der Kunst­aka­de­mien brach, um sich neu­en künst­le­ri­schen Aus­drucks­for­men zuzu­wen­den bis hin zur Abs­trak­ti­on. 1912 ver­öf­fent­lich­ten sie dazu ihren gleich­na­mi­gen Alma­nach, der zu einem der wich­tigs­ten Mani­fes­te moder­ner Kunst geriet. “Der Blaue Rei­ter” ver­stand sich als offe­ne Gemein­schaft, die von Anfang an auch inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen pfleg­te, vor allem zu fran­zö­si­schen und rus­si­schen Kol­le­gen. Das zeig­ten ihre bei­den Aus­stel­lun­gen von 1911 und 1912. Man träum­te von welt­um­span­nen­dem Aus­tausch. Die­sen Traum zer­riss der Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs – bereits weni­ge Wochen nach Kriegs­be­ginn fiel August Macke, 1916 Franz Marc, 1917 Wil­helm Morg­ner, um nur drei Expo­nen­ten des Auf­bruchs in die Moder­ne zu nennen.

Muse­ums­lei­ter Dr. Oli­ver Schmidt erläu­tert den Zeit­punkt der Aus­stel­lung: “Dass sich in die­sem Jahr der Beginn des Ers­ten Welt­kriegs zum 110. Mal jährt, ist für das Sau­er­land-Muse­um Anlass, sei­ne Dar­stel­lung in der Kunst aus­führ­lich zu würdigen.”

Wie er zum ers­ten Mal durch die Mas­sen­pro­duk­ti­on indus­tri­ell her­ge­stell­ter Waf­fen zu unvor­stell­ba­ren Mate­ri­al­schlach­ten mit Mil­lio­nen Toten, zuvor nie gekann­ten Ver­wun­dun­gen und Trau­ma­ta führ­te, so sah auch eine Viel­zahl von Künst­lern die Aus­ein­an­der­set­zung damit in den Mit­teln der neu­en expres­sio­nis­ti­schen Kunst, der es gelang, die­se Erfah­run­gen in vie­ler­lei Hin­sicht haut­nah zu ver­mit­teln: So hiel­ten sie ihr inne­res Erle­ben und Füh­len an der Front für alle und für alle Zeit im Bild fest. Der Traum von einer fried­li­chen Welt war zu einer Uto­pie geworden.

Mit der Revo­lu­ti­on am Ende des Krie­ges keim­ten neue Hoff­nun­gen auf. Es ist ein bis heu­te noch kaum in den Blick genom­me­nes Phä­no­men, wie der Rück­griff auf die seit dem Jahr­hun­dert­be­ginn neue Bild­welt des Expres­sio­nis­mus eine jün­ge­re Gene­ra­ti­on erfass­te, wobei ihr eini­ge der “Grün­dungs­vä­ter” zur Sei­te stan­den. Zum ers­ten Mal glaub­ten wei­te Krei­se der Künst­ler­schaft dar­an, mit ihrem Schaf­fen die Welt ver­än­dern und auf eine bes­se­re Gesell­schaft hin wir­ken zu kön­nen. Nach und nach muss­ten sie jedoch erfah­ren, dass ihre Idea­le einer offe­nen, kul­tu­raf­fi­nen Gesell­schaft kei­nen Wider­hall fan­den: Lan­ge leb­te die Mas­se der Men­schen auch in der Wei­ma­rer Repu­blik am Ran­de des Exis­tenz­mi­ni­mums. Wie­der zer­platz­ten die Träu­me von einer freie­ren Welt, die­ses Mal an den poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Gegebenheiten.

Mit der Macht­über­tra­gung an Adolf Hit­ler beginnt die “Gleich­schal­tung”, die in allen Berei­chen der Kul­tur rück­wärts­ge­wandt, roman­tisch naiv, spieß­bür­ger­lich Vor­ga­ben mach­te. Alle Berei­che des Auf­bruchs in die Moder­ne (Kunst, Lite­ra­tur, Musik) ver­sah er mit dem Eti­kett “ent­ar­tet”. Bereits in sei­ner Pro­gramm­schrift “Mein Kampf” hat­te der spä­te­re Reichs­kanz­ler in ihnen “Zer­falls­er­schei­nun­gen der ari­schen Ras­se” aus­ge­macht, die es aus­zu­mer­zen gäl­te, sie dem Ein­fluss des Juden­tums und des Bol­sche­wis­mus zuge­schrie­ben. Davon war beson­ders der Expres­sio­nis­mus betrof­fen. Ab 1937 wur­den in Beschlag­nah­me­ak­tio­nen über 20.000 Kunst­wer­ke als “dege­ne­riert”, die “Volks­ge­sund­heit zer­set­zend”, beschlag­nahmt. Eine Aus­wahl davon wur­de auf ins­ge­samt 35 Feme­schau­en ange­pran­gert, deren unrühm­li­cher Höhe­punkt die Aus­stel­lung “Ent­ar­te­te Kunst” 1937 in Mün­chen war.

Ein wei­te­res Mal zer­riss der Traum der Künst­ler, der es in der Wei­ma­rer Repu­blik immer­hin bis zu einem bis dahin nicht gekann­ten Vari­an­ten­reich­tum an Aus­drucks­for­men gebracht hat­te. Statt­des­sen waren sie Repres­sio­nen aus­ge­setzt, muss­ten sich samt und son­ders durch die “Reichs­kam­mer der bil­den­den Küns­te” gän­geln las­sen. Für jene, die auf­grund ihrer Her­kunft oder poli­ti­schen Ein­stel­lung an Leib und Leben bedroht waren, blieb nur die Mög­lich­keit der Emi­gra­ti­on. Von denen, die sie nicht wähl­ten oder denen sie nicht gelang, kam eine unge­zähl­te Anzahl in KZs ums Leben; eini­ge wähl­ten den Sui­zid. – Ein Teil derer, die im Lan­de ver­blie­ben, pass­te sich an oder zog sich in die “inne­re Emi­gra­ti­on” zurück.
Nur Weni­gen gelang es nach dem Ende der NS-Dik­ta­tur, an ihre Schaf­fens­kraft vor 1933 anzu­knüp­fen. Der Soes­ter Eber­hard Vie­ge­ner schuf mit der wie­der­ge­won­ne­nen Frei­heit noch ein respek­ta­bles Alterswerk.

Zur Ausstellung

Die Aus­stel­lung wird gemein­sam mit dem Gestal­tungs­bü­ro Mat­thies Weber & Schnegg aus Ber­lin kon­zi­piert und mit dem Samm­ler Dr. Ger­hard Schnei­der kura­tiert. Die klas­si­sche Samm­lungs­prä­sen­ta­ti­on ergänzt das Muse­um um eine dyna­mi­sche Gestal­tung aus Far­ben, Medi­en, beglei­ten­den Tisch­vi­tri­nen und einen Ver­mitt­lungs­zu­gang für Kinder.

Das für die Aus­stel­lung aus­ge­wähl­te Titel­mo­tiv “Schwes­ter Maria, schla­fend” von Hein­rich Maria Davring­hau­sen befin­det sich bereits im ers­ten Aus­stel­lungs­raum zum Blick auf den frü­hen Expres­sio­nis­mus bis zum Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs und gibt exem­pla­risch Aus­kunft über die Viel­falt der Stil­mit­tel und Aus­drucks­for­men, die die Expres­sio­nis­ten entwickelten.
Seit ver­mut­lich rund 100 Jah­ren erst­mals öffent­lich zu sehen ist das Werk “Ver­wun­de­ter Kaval­le­rist am Was­ser” (1917÷18) von Lorenz Bös­ken, das lan­ge in der Ver­sen­kung ver­schwun­den war und mit Grö­ße, Farb­ge­bung und Dar­stel­lung den Mit­tel­punkt der Aus­stel­lung zur Ver­ar­bei­tung des Ers­ten Welt­kriegs bildet.

In künst­le­risch hell­sich­ti­ger Wei­se führt im letz­ten und größ­ten Aus­stel­lungs­raum das Werk “Der Abgrund” (1935) von Georg Netz­band dem Besu­cher vor Augen, dass durch die Poli­tik des “Drit­ten Reichs” die Mensch­heit nicht nur vor einem Abgrund steht, son­dern bereits von ihm ver­schlun­gen wird.

Die ins­ge­samt etwa 170 Wer­ke aus der umfang­rei­chen Samm­lung von Ger­hard Schnei­der umfas­sen äußerst sel­te­ne, zum Teil noch nie öffent­lich gezeig­te Ölbil­der und Gra­fi­ken, so zum Bei­spiel frü­he Gra­fi­ken des Künst­lers Josef Albers oder auch Wer­ke von Künst­lern wie Max Pech­stein, Flo­renz Robert Schab­bon und Käthe Kollwitz.

Sammlung Gerhard Schneider

Die Samm­lung Ger­hard Schnei­der stellt mit über 6.000 Kunst­wer­ken zum gesam­ten 20. Jahr­hun­dert einen kaum ver­gleich­ba­ren Bestand dar. Das her­vor­ste­chen­de Merk­mal die­ses Fun­dus besteht in der Ver­bin­dung von hohem künst­le­ri­schen Gestal­tungs­an­spruch und der Wie­der­ga­be his­to­ri­scher und gesell­schaft­li­cher Ereig­nis­se. Neben einer Rei­he renom­mier­ter Namen wie Beck­mann, Heckel, Kan­din­sky, Kirch­ner, Marc, Morg­ner, Pech­stein, Schmidt-Rottluff oder Roh­lfs fin­det sich eine kaum zu benen­nen­de Zahl von nahe­zu Unbekannten.

Dr. Ger­hard Schnei­der zu sei­ner umfang­rei­chen Samm­lung: “Ins­be­son­de­re deren Wir­ken und ihre Wie­der­ent­de­ckung zei­gen, in wel­chem Umfang Meis­ter­leis­tun­gen in unse­rer Erin­ne­rung nicht mehr prä­sent sind.”

Rahmenprogramm

Das umfas­sen­de Rah­men­pro­gramm ergänzt die Aus­stel­lung um künst­le­risch-krea­ti­ve Ange­bo­te. Sowohl tän­ze­ri­sche als auch lyri­sche Aus­stel­lungs­füh­run­gen berei­chern die bil­den­de Kunst um wei­te­re, dar­stel­le­ri­sche Ebenen.
Im Janu­ar liest der Köl­ner Lite­rat Ste­phan Schä­fer aus “Die Ermor­dung einer But­ter­blu­me” von Alfred Döb­lin, der als Weg­be­rei­ter des Expres­sio­nis­mus in der Lite­ra­tur gilt und des­sen Tex­te bereits 1910/1911 in der Zeit­schrift Der Sturm von Her­warth Wal­den publi­ziert wurden.

Die schil­lern­de Per­sön­lich­keit Alma Mahler steht im Mit­tel­punkt einer wei­te­ren Lesung im Febru­ar. Alma Mahler war zunächst mit dem Kom­po­nis­ten und Wie­ner Opern­di­rek­tor Gus­tav Mahler ver­hei­ra­tet, hat­te eine Affä­re mit dem Bau­haus-Archi­tek­ten Wal­ter Gro­pi­us, den sie nach Mahlers Tod und einer Liai­son mit dem Maler Oskar Kokosch­ka hei­ra­te­te. Nach der Schei­dung von Gro­pi­us wur­de sie die Ehe­frau des Schrift­stel­lers Franz Wer­fel, mit dem sie gemein­sam in die USA auswanderte.

Die Lesung beleuch­tet eini­ge der Facet­ten die­ser “gro­ßen Dame”, indem sie den auto­bio­gra­fi­schen Tex­ten Alma Mahlers Stim­men aus ihrer Umge­bung und ver­schie­de­ne Kla­vier­stü­cke an die Sei­te stellt.
Regel­mä­ßi­ge öffent­li­che Füh­run­gen durch die Aus­stel­lung run­den das Ange­bot ab.

Die Aus­stel­lung wird geför­dert vom Minis­te­ri­um für Kul­tur und Wis­sen­schaft des Lan­des Nordrhein-Westfalen.

ZERRISSENE TRÄUME
Sau­er­land-Muse­um

 

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Quel­le: Hoch­sauer­land­kreis – Mar­tin Reu­ther (V.i.S.d.P.)
Bild: Blick in die Aus­stel­lung ZER­RIS­SE­NE TRÄUME
Foto­credits: Sauerland-Museum