Alles auf eine Karte – Leitartikel von Jan Jessen zur Gegenoffensive der Ukraine

„Berliner Morgenpost“: Alles auf eine Karte – Leitartikel von Jan Jessen zur Gegenoffensive der Ukraine

In der Ukrai­ne berei­ten sich Zehn­tau­sen­de Sol­da­ten auf den Beginn einer mili­tä­ri­schen Groß­ope­ra­ti­on vor, die den Ver­lauf des Krie­ges ent­schei­dend ändern könn­te. Die rus­si­sche Win­ter­of­fen­si­ve ist kläg­lich geschei­tert, jetzt steht die ukrai­ni­sche Gegen­of­fen­si­ve bevor. Ihr Beginn ist in den kom­men­den Wochen zu erwar­ten, wenn die Böden tro­cken, die vom Wes­ten gelie­fer­ten gepan­zer­ten Fahr­zeu­ge und die im Aus­land trai­nier­ten Sol­da­ten ein­satz­be­reit sind.

Noch aber reg­net es. Auf schlam­mi­gem Grund kön­nen Kampf­pan­zer oder Schüt­zen­pan­zer nicht in der Geschwin­dig­keit vor­sto­ßen, die in der wei­ten Step­pe nötig ist, um den Geg­ner zu über­ra­schen. Ob die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te den rus­si­schen Streit­kräf­ten ähn­lich emp­find­li­che Schlä­ge ver­set­zen kön­nen wie im Früh­jahr ver­gan­ge­nen Jah­res vor Kiew, im Herbst im Nord­os­ten bei Char­kiw oder im Süden bei Cher­son, hängt ent­schei­dend von die­sem Moment der Über­ra­schung ab.

Die Rus­sen haben ihre Ver­tei­di­gungs­stel­lun­gen ent­lang der über 1300 Kilo­me­ter lan­gen Front­li­nie gut aus­ge­baut, die Ukrai­ner ver­fü­gen nicht über die Mas­se an Sol­da­ten, die es nach mili­tä­ri­scher Arith­me­tik bräuch­te, um die­se Posi­tio­nen ein­fach zu über­ren­nen. Die mili­tä­ri­sche Füh­rung der Ukrai­ne muss also Schwach­stel­len fin­den, die Vor­stö­ße ohne gro­ße eige­ne Ver­lus­te mög­lich machen. Auf­klä­rung, Artil­le­rie, der Ein­satz von Pan­zern und Infan­te­rie müs­sen auf­ein­an­der abge­stimmt sein. Ob die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te die­sen Kampf der ver­bun­de­nen Waf­fen beherr­schen, ob also das mona­te­lan­ge Trai­ning in den Nato-Staa­ten erfolg­reich war, wird sich zeigen.

Ein Erfolg der Gegen­of­fen­si­ve ist nicht garan­tiert, zumal vie­le der erfah­re­nen ukrai­ni­schen Sol­da­ten und Kom­man­deu­re in den blu­ti­gen Abwehr­kämp­fen der ver­gan­ge­nen Mona­te gefal­len sind oder so schwer ver­letzt wur­den, dass sie nicht mehr aufs Schlacht­feld zurück­keh­ren kön­nen. Nicht nur in der Ukrai­ne, auch bei den west­li­chen Ver­bün­de­ten ist die Ner­vo­si­tät groß. Wenn den ukrai­ni­schen Streit­kräf­ten kei­ne grö­ße­ren Gelän­de­ge­win­ne gelin­gen und sich der Stel­lungs­krieg im Osten und Süden wei­ter ver­fes­tigt, wer­den die Dis­kus­sio­nen um die Not­wen­dig­keit wei­te­rer Waf­fen­lie­fe­run­gen genau­so wie der Druck zuneh­men, wie­der an den Ver­hand­lungs­tisch zurück­zu­keh­ren. In den USA, die der wich­tigs­te Part­ner Kiews sind, steht der Prä­si­dent­schafts­wahl­kampf bevor. Die Unter­stüt­zung der Ukrai­ne ist kein The­ma, mit dem Prä­si­dent Biden punk­ten kann – ins­be­son­de­re wenn die mil­li­ar­den­schwe­ren Mili­tär­hil­fen nicht sicht­bar von Erfolg gekrönt sind.

Die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung wie­der­um hat sich mit einer Art trot­zi­ger Schick­sals­er­ge­ben­heit im Krieg ein­ge­rich­tet. Für einen Frie­den um den Preis der Auf­ga­be eines Fünf­tels des Lan­des ist der­zeit kaum jemand. Das aber könn­te sich ändern, wenn die Gegen­of­fen­si­ve unter hohen Opfer­zah­len schei­tert und in der Fol­ge erheb­lich mehr jun­ge Män­ner zum Mili­tär­dienst ein­ge­zo­gen wer­den müss­ten ; der­zeit die­nen vor allem Frei­wil­li­ge. Es steht also in den kom­men­den Wochen enorm viel auf dem Spiel.

Auch für die Kriegs­trei­ber in Mos­kau : Soll­ten die rus­si­schen Streit­kräf­te ein­mal mehr eine demü­ti­gen­de Nie­der­la­ge auf dem Schlacht­feld hin­neh­men müs­sen, dürf­te in Russ­land in der Mili­tär­füh­rung und der Wirt­schafts­eli­te die Ein­sicht wach­sen, dass die­ser Krieg ein­fach nicht zu gewin­nen ist, dass sich Prä­si­dent Putin fürch­ter­lich ver­kal­ku­liert hat – und dass ein Abzug aus der Ukrai­ne mög­li­cher­wei­se unver­meid­lich ist.

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Quel­le : BER­LI­NER MORGENPOST
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Foto­credit : Ado­be­Stock 264923820

 

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