Vor einem Jahr nimmt die Caritas Brilon geflüchtete Frauen mit Behinderungen auf

„Wir ler­nen, wie­der im Frie­den zu leben“ – Krieg, Eva­ku­ie­rung, Flucht : „Wir hat­ten Angst“

Bri­lon. Am Sonn­tag, 20. März 2022, stop­pen gegen 18 Uhr Rei­se­bus­se auf dem Park­platz der Fir­ma Egger in Bri­lon. 110 Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne mit Behin­de­run­gen stei­gen aus und wer­den von Mit­ar­bei­ten­den des Cari­tas­ver­ban­des Bri­lon und der Fir­ma Egger emp­fan­gen. Sie haben einen lan­gen, auch tra­gi­schen Weg hin­ter sich brin­gen müs­sen. Sie muss­ten aus ihrer Hei­mat­stadt Kiew vor dem rus­si­schen Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne flüch­ten. In Bri­lon wer­den die Men­schen mit Behin­de­run­gen auf wei­te­re Cari­tas­trä­ger auf­ge­teilt. Sie rei­sen mit ihren Betreue­rin­nen wei­ter in Ein­rich­tun­gen nach Essen, Han­no­ver, Met­ten, Dort­mund und War­burg, die die Kriegs­flücht­lin­ge auf­neh­men. 18 Mäd­chen und Frau­en mit Behin­de­run­gen blei­ben mit ihren Beglei­te­rin­nen und deren Kin­der in Bri­lon. Die 17- bis 35-Jäh­ri­gen haben ein Zuhau­se auf Zeit im Alt­bau des Cari­tas Senio­ren­zen­trum St. Engel­bert in Bri­lon gefun­den. Genau ein Jahr leben die Ukrai­ne­rin­nen in St. Micha­el. Die Wohn­grup­pe wur­de nach dem Schutz­pa­tron von Kiew benannt.

Krieg, Eva­ku­ie­rung, Flucht : „Wir hat­ten Angst“

Eini­ge Bewoh­ne­rin­nen erin­nern sich an die Zeit, als der Krieg in ihre Stadt, in ihr Leben ein­schnitt. „Wir hat­ten Angst. Als Kiew bom­bar­diert wur­de, haben wir uns im Kel­ler unse­res Hei­mes ver­steckt. Es war feucht, kalt, dun­kel. Es gab kein war­mes Essen und kein Platz zum Schla­fen. Wir hat­ten uns anein­an­der geku­schelt, um nicht zu erfrie­ren.“ Fünf Tage und fünf Näch­te lang ver­brach­ten die Men­schen mit Behin­de­run­gen und ihre Betreue­rin­nen in der Tie­fe ohne Tages­licht. Dann begann die ers­te Eva­ku­ie­rungs­ak­ti­on von 200 Men­schen mit Behin­de­run­gen aus der Groß­ein­rich­tun­gen im Kie­wer Zen­trum ins pol­ni­sche Opo­le. Die ers­te Flucht­sta­ti­on war ein ehe­ma­li­ges Kur­heim. In Koope­ra­ti­on mit der Cari­tas Spes (Ukrai­ne), der Cari­tas Polen und dem Cari­tas Behin­der­ten­hil­fe und Psych­ia­trie e.V. (Deutsch­land) wur­den wei­te­re Eva­ku­ie­run­gen sowie die Wei­ter­rei­se der ers­ten 200-köp­fi­gen Kohor­te gen Wes­ten organisiert.

Kraft­akt für die Nächs­ten­lie­be ; „Wir sind Cari­tas, wir wer­den helfen“

„Die Anfra­ge, Flücht­lin­ge mit Behin­de­run­gen auf­zu­neh­men, erreich­te uns am 6. März, einem Sonn­tag­abend. Kei­ne 24 Stun­den spä­ter stand für uns die Ent­schei­dung : Wir sind Cari­tas, wir wer­den hel­fen“, erin­nert sich Heinz-Georg Eirund, Vor­stand Cari­tas­ver­band Bri­lon, zurück. In einer Hau­ruck-Akti­on wur­de ein Wohn­be­reich im des St. Engel­bert­heim ertüch­tigt, par­al­lel dazu eine ers­te Infra­struk­tur für Lebens­mit­tel, Betreu­ung und Teil­ha­be­mög­lich­kei­ten ein­ge­rich­tet. Es war ein wei­te­rer Kraft­akt in Zei­ten von Per­so­nal­man­gel und der noch herr­schen­den Coro­na-Pan­de­mie, den die Cari­tas-Teams aus den Berei­chen der Behin­der­ten- und Alten­hil­fe, den Werk­stät­ten und der Bera­tungs­diens­te gemein­sam meis­ter­ten. Genau 14 Tage nach dem Hil­fe­ruf zog die Frau­en­grup­pe am 20. März 2022 ein.

Von der Angst hin zum Einleben 

„Nach der zehn­stün­di­gen Bus­fahrt von Polen nach Deutsch­land waren wir erschöpft“, erin­nert sich eine Bewoh­ne­rin an die emo­tio­na­le Ankunft vor einem Jahr. „Ehr­lich gesagt, hat­ten wir Angst, von­ein­an­der getrennt zu wer­den. Am liebs­ten hät­ten wir gemein­sam in einem Zim­mer geschla­fen, genau­so wie wir die letz­ten Stun­den in Kiew ver­bracht hat­ten.“ Von Stun­de 1 an wur­de die Betreu­ung der ukrai­ni­schen Grup­pe in Koope­ra­ti­on mit Cari­tas-Mit­ar­bei­ten­den orga­ni­siert. Dafür waren auch Rent­ner zurück­ge­kehrt : Etwa Eva Strat­mann, die in der Anfangs­zeit die Lei­tung von St. Micha­el über­nahm, oder Uschi Kos­se, die zuvor im Ambu­lant Betreu­ten Woh­nen der Cari­tas Bri­lon gear­bei­tet hat­te. „Wir hel­fen bei Behör­den­gän­gen oder Arzt­be­su­chen, gestal­ten All­tag und Frei­zeit zusam­men und ste­hen natür­lich bei Kri­sen zur Sei­te“, erzählt Uschi Kos­se. „An die­ser Stel­le möch­ten wir auch an Dr. Reiß erin­nern, der uns bei medi­zi­ni­schen wie mensch­li­chen Fra­gen immer unkom­pli­ziert und von Her­zen gehol­fen hat“, betont Nadi­ne Gebau­er, Haus­lei­te­rin St. Micha­el. „Die Frau­en und wir ver­mis­sen die­sen guten Men­schen sehr.“

Kri­sen sind zum Glück sehr sel­ten. „Die Frei­zeit­ge­stal­tung steht nach dem Fei­er­abend in den Cari­tas-Werk­stät­ten St. Mar­tin und an den Wochen­en­den im Vor­der­grund. Die Grup­pe ist gern drau­ßen unter­wegs und sehr offen für neue Begeg­nun­gen und Erleb­nis­se“, erzählt Uschi Kos­se. Sams­tags geht es bei­spiels­wei­se zum Tur­nen ins Alfred-Delp-Haus, Aus­flü­ge führ­ten zum Zir­kus nach Ols­berg oder in den Müns­te­ra­ner Zoo, zum Inklu­si­ons­fest am Hen­nes­ee oder zum Wald­er­leb­nis­pfad Meer­hof. Lang­zeit-Favo­rit für den Fei­er­abend ist der Bri­lo­ner Kur­park. „Auch Krea­ti­ves fin­det Anklang, sodass die Ukrai­ne­rin­nen auch an der Bri­lo­ner Akti­on ‚Kunst im Läd­chen‘ teil­ge­nom­men haben“, sagt Uschi Kos­se. Gene­rell ist Bri­lon ein wenig Hei­mat gewor­den : Kir­mes, BIG SIX Ver­an­stal­tun­gen wie das Fuß­ball­tur­nier, Schüt­zen­fest, Bür­ger­meis­ter-Emp­fang oder eine Ein­la­dung vom Besit­zer ins Café am Markt – über­all und ger­ne mischen sich die Ukrai­ne­rin­nen unter das Publi­kum. „Dank unse­rer Erzie­he­rin­nen aus Kiew und den Betreue­rin­nen von der Cari­tas haben wir uns gut ein­ge­lebt. Wir haben kei­ne Angst mehr vor lau­ten Geräu­schen und frem­den Men­schen. Wir ent­de­cken täg­lich etwas Neu­es und Inter­es­san­tes. Wir ler­nen wie­der, im Frie­den zu leben“, sagt eine Bewohnerin.

Es blei­ben Fra­gen und das Ende des Krie­ges offen

Die ad hoc Hil­fe am Anfang stand schnell. Auch das Erz­bis­tum Pader­born hat eine finan­zi­el­len Bei­hil­fe gelie­fert. Mitt­ler­wei­le hat sich der All­tag ein­ge­spielt. Aber es blei­ben Fra­gen und das Ende des Krie­ges ist offen. Cari­tas-Vor­stand Heinz-Georg Eirund kennt die Ängs­te und Sor­gen der Men­schen aus vie­len Gesprä­chen : „Es war anstren­gend und vie­les ist noch unge­klärt für die Zukunft der Frau­en und ihr Hei­mat­land und auch für uns in Deutsch­land, auch in Bri­lon. Wie lan­ge wer­den die Men­schen blei­ben, weil es in ihrem Zuhau­se zu unsi­cher ist ? Wie trag­fä­hig ist die Soli­da­ri­tät mit der Ukrai­ne in unse­rer Gesell­schaft und den Flücht­lin­gen, wenn die­ser Krieg noch lan­ge dau­ern wird ? Wie stel­len wir uns als Bür­ger und Gesell­schaft auf die Ver­än­de­run­gen und Neu­ord­nun­gen ein?“

Sehr vie­le Men­schen hel­fen den Frau­en und Flücht­lin­gen ganz kon­kret. „Vie­len Dank an die Bür­ger und Insti­tu­tio­nen, die auch uns als Cari­tas hel­fen, den Men­schen zu hel­fen“, betont Eirund. Neben dem beach­tens­wer­ten Enga­ge­ment sieht Eirund aber auch Ver­bes­se­rungs­po­ten­zi­al mit kri­ti­schem Blick auf die Sys­te­me und Struk­tu­ren. „Auch nach einem Jahr sind nicht alle Zustän­dig­kei­ten samt Refi­nan­zie­run­gen geklärt. Behör­den ver­wei­sen auf­ein­an­der ; punk­tu­ell fühlt sich nie­mand ver­ant­wort­lich. Das war zu Beginn anders ver­spro­chen wor­den. Sozi­al­mi­nis­ter Lau­mann hat uns im März 2020 per­sön­li­che unbü­ro­kra­ti­sches Mit­tra­gen zuge­sagt : Helft den Men­schen ; die Finan­zie­rung klä­ren wir spä­ter“, sagt Vor­stand Eirund. Ein Jahr ist nun ver­gan­gen. Hil­fe wur­de und wird vor Ort prag­ma­tisch, kon­kret und ver­läss­lich geleis­tet. „Und trotz aller Unge­wiss­hei­ten, Kraft­ak­te und Rei­be­rei­en wür­den wir als Cari­tas die­sel­be Ent­schei­dung wie­der tref­fen und die Flücht­lin­ge mit Behin­de­run­gen bei uns auf­neh­men“, schließt Heinz-Georg Eirund.

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Quel­le : San­dra Wamers, Inter­ne | Exter­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on, Mar­ke­ting, Cari­tas­ver­band Bri­lon e.V.
Foto­credits:© Cari­tas­ver­band Bri­lon e.V.

 

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